hatte Arne seine Frau zu den besten Ärzten in Amerika, Japan und China geschickt. Immer wieder war das Schlimmste so hinausgezögert worden. Wirklich helfen konnte ihr allerdings niemand.
Marlene parkte ihren Wagen am Straßenrand, ging langsam durch den bescheidenen Vorgarten. Sie hatte Herzklopfen, als sie auf den Klingelknopf drückte.
Nach so vielen Jahren würde sie den Mann wiedersehen, den sie geliebt hatte wie keinen anderen. Sie war sehr enttäuscht gewesen, als er ihre Schwester heiratete.
Iris war ein Jahr älter als sie, und sie hatten sich immer gut verstanden, hatten eine glückliche Kindheit verlebt. Die ersten Symptome der Krankheit zeigten sich, als Iris 22 war. Natürlich galt die Sorge der Eltern fortan in erster Linie ihr. Marlene hatte Verständnis dafür, war auch gerne damit einverstanden, Knochenmark für ihre Schwester zu spenden. Alle waren sehr erleichtert, als sich daraufhin der Zustand der Kranken verbesserte, als sie wieder ein normales Leben führen konnte.
An der Uni hatte Marlene Arne kennengelernt und mit nach Hause gebracht. Mit Iris zusammen verbrachten sie manchen fröhlichen Abend, unternahmen gemeinsame Ausflüge.
Sie hatten nie darüber gesprochen, doch Marlene nahm mit großer Selbstverständlichkeit an, daß Arnes Interesse ihr galt, daß er sich nur aus Höflichkeit auch mit ihrer Schwester befaßte. Sie träumte von einer gemeinsamen Zukunft.
Um so mehr war sie enttäuscht darüber, als Arne und Iris ihre Verlobung bekanntgaben. Marlene fühlte sich hintergangen und verließ verbittert ihre Familie.
Bei einem Urlaub in Italien lernte sie Celestino Piotta kennen. Er hatte sich gerade von seiner zweiten Frau scheiden lassen und war sofort begeistert von Marlene.
Der wesentlich ältere Mann war ihr gleichgültig, und doch nahm sie seinen Heiratsantrag an, denn Piotta bot ihr nicht nur ein neues Zuhause, sondern auch eine beachtliche gesellschaftliche Stellung und die Annehmlichkeiten eines luxuriösen Lebens. Nachdem Arne Nielsen für sie unerreichbar geworden war, versprach sie sich von einer Partnerschaft ohnehin nichts mehr. Es war ihr egal, wo sie künftig lebte. Eine Einstellung, die sie später sehr bereuen sollte.
Nach außen hin war alles in Ordnung. Jeder glaubte, daß Marlene das große Glück gefunden hätte, und sie gab sich auch zufrieden und glücklich. Niemand ahnte, wie sehr sie litt, am wenigsten Celestino, der keiner Frau treu sein konnte.
Marlene hatte Arne nie wiedergesehen, vergessen hatte sie ihn allerdings nicht.
Es dauerte einige Minuten, bis geöffnet wurde. Dann stand Marlene nicht ihrem Exfreund, sondern einem kleinen Mädchen gegenüber. Zierlich, schmal und blond war die Kleine und sah mit großen blauen Augen zu Marlene auf. Augen, wie Arne sie hatte. Marlene verspürte einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Wie oft hatte sie davon geträumt, daß ihr Kind so aussehen würde. Zwei blonde Schaukelzöpfchen baumelten zu beiden Seiten des schmalen Gesichtchens und gaben ihm einen unwiderstehlichen Reiz.
»Du bist Lea, nicht wahr?« fragte Marlene befangen. »Ich bin deine Tante, die Schwester deiner Mutti.«
Verunsichert sah sich das Kind um. »Papa!« rief es ein wenig ängstlich durch den Flur. Lea hatte in ihrem jungen Leben schon viel Schweres erfahren, war viel zu ernst für ihr Alter. Die Krankheit der Mutter hatte sie ebenso belastet wie den Vater. Das ständige Hoffen und Bangen und schließlich der unabwendbare Tod hatten Leas kindliche Fröhlichkeit unterdrückt, ließen die jugendliche Unbekümmertheit gar nicht aufkommen. Lea war reifer und erfahrener als andere Kinder ihres Alters. Zu früh hatte sie die harte Wirklichkeit des Lebens kennengelernt. Sie hatte auch gelernt, sich anzupassen, abzufinden, das Schicksal als vorgegeben hinzunehmen.
Ein Mann erschien, hochgewachsen, sportlich schlank mit einem kantig wirkenden und dennoch hübschen Gesicht und Augen, die überhaupt nicht dazu paßen. Sie waren sanft und erinnerten in ihrem reinen Blau an einen Bergsee. Tief, still, geheimnisvoll.
»Marlene!« Mit ausgestreckten Händen ging Arne auf die Schwägerin zu. Er begrüßte sie mit einem Lächeln, das echte Freude verriet. Seine für einen Mann so ungewöhnlich blauen Augen strahlten. »Wie schön, daß du gekommen bist. Du siehst gut aus, noch besser als früher.«
Der letzte Satz war ein laut geäußerter Gedanke und deshalb für Arne etwas peinlich. Eine leichte Röte überflog seine bleichen Wangen. Arne erinnerte sich flüchtig an früher, an die glückliche Zeit des Studiums. Nein, er hatte nichts vergessen, aber er hatte es vermieden, an Marlene zu denken. In den vergangenen zwei Jahren hatte die Sorge um seine Frau all sein Denken beherrscht. Daneben war für nichts anderes Platz gewesen. Es war, als hätte er auf dem Mond gelebt und müßte sich jetzt wieder auf der Erde zurechtfinden. Es war fast etwas peinlich für ihn.
»Arne, ich wußte nicht, daß es Iris wieder schlechter ging. Sonst wäre ich viel früher gekommen«, erklärte Marlene etwas schuldbewußt. Sie hatte die Sonnenbrille, die sie beim Fahren zum Schutz gegen die blendenden Strahlen der untergehenden Sonne getragen hatte, ins Haar geschoben und sah so jung und lebensfroh aus, trotz der Trauerkleidung.
Für wenige Augenblicke vergaßen die Erwachsenen das Kind, das zwischen ihnen stand und verwundert hochschaute. Lea spürte die Vertrautheit zwischen den beiden Menschen, und das war erstaunlich für sie. Seit Iris’ Krankheit wieder aufgeflackert war, hatten die Nielsons alle Kontakte zu Freunden und Bekannten abgebrochen und lebten ganz zurückgezogen.
Der Vati mochte also die fremde Tante, und Lea beschloß, sie auch zu mögen. Sie hatte sofort bemerkt, daß diese Frau eine sehr liebe, verständnisvolle Art hatte.
»Bitte, komm herein«, forderte Arne den Besuch auf. Er führte Marlene ins geräumige Wohnzimmer, in dem viele Handarbeiten an Iris erinnerten. Arne bat die Schwägerin, auf der Couch Platz zu nehmen und setzte sich ihr gegenüber, etwas steif und unbeholfen. »Iris wollte nicht, daß jemand von ihrer Krankheit erfährt, auch du nicht. Sie hoffte bis zuletzt, daß sie wieder gesund werden würde. Aber leider…« Traurig zuckte Arne die Achseln.
»Und ich dachte immer, sie hätte die Krankheit überwunden.« Marlene war aufgewühlt und nervös, sie hatte Mühe, ihre Hände stillzuhalten.
»Wir haben das auch gedacht, und als Lea zur Welt kam, war das auch die Meinung der Ärzte. Iris wollte ein ganz normales Leben führen. Fast sechs Jahre lang hat sie es geschafft.«
Es war die Liebe, die ihr diese Kraft gab, dachte Marlene ohne Neid. Daß Iris in Arne verliebt war, wußte sie schon damals, als sie an derselben Uni studierten. Allerdings hätte sie nie geglaubt, daß die Schwester so unfair sein würde, ihr den Freund zu nehmen.
»Die Ärzte hielten es für ein Wunder«, erzählte Arne, und es war, als führte er ein Selbstgespräch. »Doch was dann kam, war die Hölle, das darfst du mir glauben. Ohnmächtig zusehen zu müssen, wie der Partner von Tag zu Tag schwächer wurde, das würde ich auch meinem schlimmsten Feind nicht wünschen. Für viel Geld gab es dazwischen immer wieder Hoffnung, aber letzten Endes doch nur Enttäuschungen.« Arne ließ den Kopf hängen, wirkte jetzt viel älter, als er mit seinen 34 Jahren war.
Lea drängte sich an seine Seite und schmiegte das Köpfchen an die Schulter des Vaters.
Marlene ahnte, daß dieses Kind mehr Trost geben mußte, als es selbst erfuhr. Sie war bewundernswert tapfer, die kleine Lea. Ein Kind, das man gern haben mußte.
»Ich weiß, wie schwer das alles für euch war. Immerhin hat Iris zehn Jahre länger gelebt, als die Ärzte vorausgesagt haben. Ich glaube, das ist ein Grund zur Dankbarkeit, nicht zur Verzweiflung. Sie möchte euch bestimmt nicht traurig sehen.«
Arne nickte und legte dabei den Arm um sein Töchterchen. »Ich möchte so gerne Abstand gewinnen, aber hier kann ich das nicht. Am liebsten würde ich in meine Heimat zurückkehren, wo mich nichts an Iris erinnert. Aber was sollte aus Lea werden? Ich müßte mir in Schweden zunächst eine Existenz aufbauen. Es wird einige Monate dauern, ehe ich sie nachkommen lassen kann.«
»Lea kann vorübergehend bei mir bleiben, kann mit Antonia zusammen die deutsche Schule besuchen und nebenbei ihre Sprachkenntnisse in schwedisch vervollständigen.«
»Echt?«