Doktor Monika Krauser bog von der Straße auf den Hof des Kirchner Gehöfts ein. Sie hielt an und stieg aus.
Die Haustür öffnete sich, und ein Mann kam auf sie zu.
»Grüß Gott! Toni hat angerufen. Du musst die Monika sein, oder muss ich korrekt Frau Doktor sagen?«
Monika lachte und gab ihm die Hand.
»Monika ist genug oder besser Moni. Lass mich raten, du bist Alexander Kirchner?«
»Richtig! Alle rufen mich Alex.«
Sie reichten sich die Hände. Seine Hand war groß und weich und warm. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Die kurze Berührung wühlte sie auf. Hoffentlich bemerkt er nichts, dachte sie.
»Moni, wollen wir gleich rüber in die Praxisräume gehen, oder kann ich dir einen Kaffee anbieten?«
»Danke, aber ich möchte zuerst die Spange reparieren, Alex. Der kleine Paul Hofer ist so unglücklich.«
Monika setzte ihre Sonnenbrille auf, obwohl der Hof im Schatten des mächtigen mehrstöckigen Bauernhauses lag, aber das war nicht der Grund dafür. Sie fürchtete, dass Alex aus ihrem Blick erraten könnte, was mit ihr los war. Ihr Herz klopfte schnell, und ihr war heiß. Sie befühlte ihre Wangen, während sie neben ihm herlief. Es war eine unbewusste Geste.
»Hast du einen Sonnenbrand?«, fragte Alex.
»Ja, ich habe wohl zu viel Sonne abbekommen. Die Luft hier in den Bergen ist klarer als in München. Das habe ich unterschätzt«, versuchte sie ihre Röte zu erklären.
Es war ihr peinlich. Ich benehme mich wie ein Backfisch, dachte sie. So etwas war ihr noch nie passiert. Ich muss einen kühlen Kopf behalten, nahm sie ich vor. Doch das fiel ihr schwer.
»Das tut mir leid«, sagte Alex. Dabei schmunzelte er.
»Was grinst du?«, fragte Monika.
»Ach, nur so.«
»Nein, du lachst mich aus, richtig?«
Alex bekam einen roten Kopf. Er fühlte sich ertappt.
»Nun ja, ich dachte, es ist tröstlich, dass Mediziner auch mal etwas unterschätzen. Es heißt doch, dass sie unfehlbar seien.«
»Unsinn!«, empörte sich Monika. »Ärzte sind Menschen. Und Menschen machen nun mal Fehler. Fehler gehören zum Leben dazu. Solange die Patienten keinen Schaden nehmen, ist es doch nicht schlimm. Du magst keine Mediziner?«
»Ich kenne keine Ärzte näher, außer meinen Onkel Adam. Ihm gehört die Praxis, auch wenn er nicht mehr tätig ist.«
Sie waren angekommen. Alex hatte schon vor ihrer Ankunft die Praxis aufgeschlossen und die Fenster geöffnet. Monika folgte ihm durch die Räume.
»Schön«, sagte Monika. »Eine richtig schöne Landzahnarztpraxis, wie aus einem alten Film!«
»Stimmt, die Praxen in München sind bestimmt hochmodern. Mein Onkel hat wenig modernisiert. Er sagt immer, was er habe genüge, um seine Patienten zu behandeln.«
Monika stand mitten im Behandlungszimmer und schaute sich um. Alles was sauber und ordentlich.
»Und er praktiziert gar nicht mehr?«
»Nein, er hat es mit der Bandscheibe.«
»Viele ältere Kollegen und Kollegen haben sich im Beruf einen kranken Rücken zugezogen«, bemerkte Monika. Dabei holte sie Pauls Zahnspange aus der Handtasche.
»Müsstest du Paul nicht mit in die Praxis bringen?«, fragte Alex.
Monika lächelte. »Ich habe Paul zu seinen Eltern ins Forsthaus gebracht. Er hatte sich geweigert mitzukommen, denn er wollte nicht gesehen werden, nachdem ganz Waldkogel nach ihm gesucht hatte.«
»Alle waren in heller Aufregung«, sagte Alex.
»Dabei sollten sich die schämen, die ihn wegen seiner Zahnspange gehänselt haben. Nun, ich hoffe ich kann etwas tun, damit das in Zukunft nicht mehr passiert, weder Paul noch einem anderen Kind. Marie, die Gemeindehelferin, hat angeregt, dass ich einen Vortrag halten könnte und dabei aufkläre und um Verständnis werbe.«
»Machst du das?«
»Ja, ich halte es für eine gute Idee. Ich bin gern Zahnärztin. Die kleinen Patienten liegen mir sehr am Herzen. Weißt du, in der Humanmedizin gibt es Fachärzte für Kinderheilkunde. Ich denke oft, es müsste auch eine spezielle Ausbildung innerhalb der Zahnmedizin geben mit dem Schwerpunkt Kinderzahnheilkunde. Kinder machen oft traumatische Erfahrungen beim Zahnarzt. Ich will nicht gegen die Kollegen schimpfen. Aber Kinder als Patienten verlangen ein besonderes Fingerspitzengefühl.«
»Du magst Kinder wohl sehr?«
»Ja, das tue ich, und ich versuche alles, damit sie keine Angst haben. Falls ich im Leben einmal eine eigene Praxis habe, möchte ich bestimmte Tage nur für Kinder reservieren.«
»Das ist eine gute Idee, Moni«, sagte Alex.
Bewunderung und Anerkennung schwang in seiner Stimme mit.
Monika öffnete verschiedene Schubladen, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Sie begann sofort, die Zahnspange zu reparieren.
»Die Praxis macht keinen unbenutzten Eindruck«, bemerkte Monika beiläufig.
»Alle Materialien sind neu.«
Alex sagte, dass sein Onkel seiner Tätigkeit als Zahnarzt immer noch nachtrauere. Er behandle gelegentlich Patienten aus der Verwandtschaft und dem engen Freundeskreis. Deshalb hielt er immer alles vorrätig.
»Außerdem sitzt er oft hier im Behandlungszimmer, wenn er zu Besuch ist. Es hat ihn schwer getroffen, dass er niemand gefunden hat, der die Praxis übernehmen wollte. Lange Jahre hoffte er, dass ich mich entscheide, in seinen Fußstapfen zu treten.«
Alexander seufzte.
»Doch ich musste ihn enttäuschen. Zahnmediziner zu sein, konnte ich mir nicht vorstellen. Es traf ihn tief, dass ich, sein ›Kronprinz‹, wie er mich nannte, seinen Wunsch nicht erfüllte. Seine Ehe war kinderlos. Alle Liebe und auch alle Pläne übertrug er auf mich.«
Monika sah kurz auf. »Das war sicher eine schwere Last. Du hast mit den Zähnen geknirscht?«
»Das habe ich.«
Alex betrachtete Monika von der Seite. Sie gefiel ihm. Er konnte den Blick nicht von ihr lassen. Es war der Blick eines Mannes, der an einer Frau Interesse gefunden hatte.
Monika spürte, dass sein Blick auf ihr ruhte. Sie zog mit einem winzigen Schraubenzieher die Schrauben an. Dabei spürte sie, dass ihr immer wieder kalt und warm wurde. Um sich besser konzentrieren zu können, stellte sie sich ans Fenster und drehte Alex dem Rücken zu. Aber es half nicht. Jetzt spürte sie seinen Blick im Rücken. Es machte sie nervös.
Sie war froh, dass sie mit der Arbeit gut vorankam. Sie schaltete die Bohrer ein und glättete die Klebstoffreste.
»Kann ich mir eine kleine Zange mitnehmen? Ich bringe sie später zurück, wenn ich Paul die Spange angepasst habe. Als er drauftrat, ist sie nicht nur in zwei Teile zerbrochen, einige Drähte haben sich verbogen.«
»Wäre es nicht besser gewesen, wenn Paul doch gleich mitgekommen wäre?«
»Sicher wäre das einfacher gewesen. Der Junge hat eine schlimme Zeit durchgemacht. Keiner wollte ihn unter Druck setzen. Seine Eltern sind glücklich, dass ihm nichts zugestoßen ist. Ihnen tut es sehr leid, dass er weggelaufen war. Sie geben sich eine Mitschuld, weil sie darauf bestanden hatten, dass er die Spange immer trägt. Sie hatten einfach kein Ohr für seine Nöte. In der Schule erging es Paul nicht besser. Kinder können schlimm sein. Er wurde sehr gehänselt.«
Monika spülte die Zahnspange ab, betrachtete sie noch einmal, dann packte sie sie ein.
»Fertig!«, sagte sie.
»Das freut mich. Dann trinken wir jetzt einen Kaffee zusammen«, sagte Alex.
Sie schaute auf die Uhr und schüttelte den Kopf.
»Ich