zu bewegen, das warme Wirrwarr ihrer Laken, seit Wochen ungewaschen, der Geruch nach warmem Schweiß und ranzigen Milchteeresten in Henkelbechern, auf denen in rosa Cartoon-Lettern die Worte »Junge Mutter« prangten.
Es brach ein sonnenreiches Jahr an, ein Jahr mit Zoobesuchen und Marmeladebroten im Park; Annies Mutter ging es besser, und sie konnte wieder arbeiten gehen, sie liebte ihre Arbeit in der großen Grafik-Design-Firma, vielleicht war es auch ein Software-Unternehmen – Simon vergaß das immer. Dann hatte sich Annies Schwester angekündigt, und die Traurigkeit war zurückgekehrt und hatte sich über alles gelegt wie ein dickes Kissen, das einem sanft aufs Gesicht gedrückt wird, diesmal endgültig. Vor ein paar Jahren hatte Annies Schwester bei der Geburt ihrer Zwillinge dasselbe erleben müssen. Postnatale Depression. Alles Licht, alle Freude, alle Energie waren aus ihrem Leben gewichen, als hätte jemand tief in ihr einen Stöpsel herausgezogen, und sie könnte nur noch hektisch danach tasten, um ihn zu finden, ehe der letzte Tropfen versiegt war.
Ich will nicht, dass mir das passiert, hatte Annie gesagt. Und es passiert bestimmt.
Simon hatte sich gefügt. Die Nächte, in denen sie erst bei Tagesanbruch ins Bett gekommen war oder auch gar nicht, völlig erfüllt von der Aufgabe, Mikrochips zu löten, einer kleiner als der andere, und Mechanismen zu optimieren, die dafür sorgten, dass die Zähne des Babys zur richtigen Zeit durchbrachen, dass die Augen reibungslos blinzelten, dass Sprech- und Sprachmuster erkannt wurden, damit das Kind wachsen und lernen konnte, genau wie ein normales Baby. Nur, dass Tommy nie krank werden würde wie ein normales Baby. Er würde Annie nie traurig machen wie ein normales Baby. Er war ihr größtes Projekt.
Und wer ein großes Projekt hat, nimmt es ernst. Babys bringt man im Krankenhaus zur Welt, also machten sie das. An einem Freitagabend gingen sie in die Notaufnahme, ein Chaos aus Körpern und Schreien unter grellen Leuchtstoffröhren, und schmuggelten Tommys Teile in einer Decke hinein. Mit strahlenden Augen und rosigen Wangen, Schweißperlen auf der Stirn, drehte Annie die letzte Schraube fest. Bei Tommys erstem Schrei stürzte ein Assistenzarzt ins Wartezimmer, und sie brachten Tommy schnell nach Hause, in seiner rosa Flauschdecke, an der statt einer Geburtsurkunde eine offizielle Verwarnung hing.
Alle freuten sich für sie. Alle spielten mit. Annies Schwester brachte die Zwillinge zum Spielen vorbei, Freunde und Kolleginnen aus dem Labor schenkten ihr kistenweise Bio-Babybrei, den Tommy nie brauchen würde. Sogar Annies Mutter, stumm und abgehärmt wie ein Bleistiftstrich auf vergilbtem Papier, kam zu Besuch und ließ sich das mechanische Kind auf den Schoß setzen, wo es nach ihrer klobigen Halskette grapschte.
Sie machten jede Menge Fotos von Tommy und stellten sie auf Facebook und Instagram. Tommy wirkte immer leicht überbelichtet, das Gesicht ein wenig zu glatt, zu unempfänglich für Schatten. Bilder vom Spielplatz, von Picknicks und Zoobesuchen. Badewannenfotos waren nicht dabei. Tommy war nicht wasserfest.
Simon bemühte sich, ihn zu lieben, und als ihm das nicht gelang, bemühte er sich, vorsichtig mit ihm umzugehen. Er hatte Angst, Tommy zu beschädigen. Da er keine Ahnung hatte, wie diese oder jene Mechanik funktionierte, ging er lieber auf Nummer sicher. Der Fehler vom Vortag war ungewöhnlich. Annie hatte ihn gefragt, warum er das Baby auf dem Autodach vergessen hatte wie einen Sack Kartoffeln. Die Wahrheit war: Er wusste es nicht. Die Wahrheit war: Er hatte es satt. Er hatte es satt, so zu tun als ob.
Und da stand nun also Annie vor ihm und hielt ihm das Kind hin wie eine Opfergabe. Simon zwang sich, die Arme auszustrecken, zwang sich, das Baby mit beiden Händen zu nehmen. Das Baby gab ein mechanisches Gurgeln von sich, die Muskelbewegungen seines Gesichts waren zu glatt, ihnen fehlte die Unbeholfenheit eines menschlichen Kindes. Beim Lächeln verzog sich der winzige Kratzer auf der makellosen Silikonhaut.
»Dada«, sagte Tommy.
Simon sah das Baby an.
»Dada«, sagte Tommy noch einmal.
Simon sah Annie an. »Das erste Wort?«
»Äh, ja«, sagte Annie. »Es ist das häufigste erste Wort.« Sie räusperte sich und fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar. »Es lässt sich viel leichter aussprechen als ›Mama‹. Liegt am Gaumensegel. Ich fand, es sollte authentisch sein.«
»Und wann hast du das einprogrammiert?«
»Gestern Abend.«
»Ich dachte, da warst du sauer auf mich.«
»War ich auch.« Sie zuckte die Schultern.
In einer einzigen Bewegung setzte Simon das Baby vorsichtig in den Hochstuhl und nahm seine Frau in beide Arme. Er küsste sie, sie öffnete den Mund, um den Kuss zu empfangen, und zwirbelte mit den Fingern seine Haare.
Schnelle, hektische Bewegungen, ihr Atem an seinem Hals, ein Keuchen, während sie ihm das Hemd von den Schultern schob, sie wollte ihn, er wollte sie. Simon spürte, wie sich sein Körper bereit machte, in den vertrauten drängenden Rhythmus zu gleiten wie eine gut geölte Maschine. Er nahm Annies Gesicht in beide Hände und küsste sie wieder, ein tiefer Kuss, als wollte er sie mit Haut und Haaren verschlingen.
In diesem Moment begann Tommy zu schreien.
Er schlug mit den weichen Silikonbeinchen gegen den Hochstuhl und forderte kreischend ihre Aufmerksamkeit.
»Er muss sein Bäuerchen machen«, murmelte Simon. »Ich weiß nicht, warum du die Funktion dringelassen hast.«
»Muss so sein, damit … alles … mmhm … authentisch …« Annie verstummte, als Simon sie wieder küsste, vom Nacken bis zum Schlüsselbein, und sie sanft in die Schulter biss.
Tommy schrie wieder.
»Ich mache das«, seufzte Simon und zog die Hand aus dem Hosenbund seiner Frau.
»Nein«, sagte Annie und hielt seine Hände fest. »Warte – ich will nur …«
»Aber das Baby schreit.«
»Nur dieses eine Mal«, sagte Annie und warf ihm einen schelmischen Blick zu. Ihre dunklen Augen funkelten verschmitzt.
»Du hast gesagt, das dürfen wir nicht«, sagte Simon.
»Ich weiß«, sagte Annie. »Nur dieses eine Mal.«
Sie wand sich aus seinen Armen und beruhigte ihren Sohn. Sie streichelte ihm die weichen Locken und gurrte sanft, während Tommy unbeirrt weiterschrie.
Dann fasste sie unten an den Kopf des Babys und legte einen kleinen verborgenen Schalter um.
Tommys blaue Augen wurden trübe und schlossen sich flatternd. Sein kleines Gesicht entspannte sich, und er sank in sich zusammen.
»Gut«, sagte Annie. »Für ein paar Stunden müsste er Ruhe geben.«
Sie warf Simon die Arme um den Hals.
Simon zerrte an den Knöpfen ihres Hemds und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie er nur hier gelandet war, in diesem kleinen Reihenhaus, bei dieser Verrückten. Warum er so ein Glück hatte.
»Ich fasse es nicht«, sagte er und senkte den Kopf zu ihrer linken Brust. »Ich fasse es nicht, dass du das Baby abgestellt hast.«
»Sei still, und küss mich.«
Wikinger-Nacht
Mit Spaß hat das nichts zu tun.
Als man dich fragte, ob du mitgehen willst zum Abendessen mit der schwedischen Kundin, hast du zugesagt, obwohl du weißt, dass du zu solchen Anlässen nur eingeladen wirst, weil die zahlungskräftigen Geschäftspartnerinnen gern einen hübschen Jungen in engen Hosen dabeihaben und die Vizepräsidentin gut dasteht. Aber eine solche Chance, Kontakte zu knüpfen, bekommst du nicht oft. Es ist dir egal, wenn sie dank dir gut dasteht.
Also kämmst du dir auf der Toilette sorgfältig die Haare. Und ehe das Taxi kommt, sprühst du dich noch einmal mit Deo ein.
Aber was sie nach dem Abendessen vorhaben – Wikinger-Nacht im Money Shot –, entspricht nicht gerade deiner Vorstellung von Spaß.