L. G. Castillo

Vor Dem Fall


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am Kragen. Das Kleid wallte um sie herum, als sie näher kam.

      Sanfte, haselnussbraune Augen sahen sie an. So erschrocken Naomi auch war, es schien, als könnte die Frau nicht glauben, was sie sah. Langsam streckte sie die Hand aus.

      »Naomi«, hauchte sie.

      »Ahhh…«

      »Tut mir leid.« Die Frau ließ ihre Hand sinken. »Ich wollte dir keine Angst machen.«

      Naomi holte tief Luft und reckte das Kinn in die Höhe. »Ich hab keine Angst.«

      Die Frau klatschte erfreut in die Hände. »Du bist es. Endlich bist du hier. Ich habe so lange auf dich gewartet.«

      Naomi sah sich suchend nach Chuy und Lalo um. Sie hatten diese Frau offenbar bezahlt, damit sie hierher kam und ihr einen Streich spielte. Obwohl sie keine Ahnung hatte, woher sie das Geld haben sollten.

      »Wer sind Sie? Woher kennen Sie mich?«

      »Wir kannten einander vor langer Zeit. Ich heiße Rebecca.«

      Naomi verzog nachdenklich das Gesicht. »Ich kann mich nicht an Sie erinnern.«

      »Natürlich nicht. Aber ich hoffe, eines Tages wirst du es.« Sie blickte sich um, als ob sie noch jemanden erwartete. »Es gibt da etwas, dass ich dir sagen muss.«

      »Okay.«

      »Aber ich bin nicht sicher, dass du mir glauben wirst. Du bist noch jung, deshalb wirst du es vielleicht.«

      »Was ist es?«

      Die Frau ließ sich auf die Knie sinken und sah ihr in die Augen. »Ich bin ein Engel.«

      Naomi sah sie misstrauisch an. »Das sind Sie?«

      Sie nickte. »Ich will dir etwas zeigen. Hab keine Angst.«

      Rebecca legte ihr eine Hand auf die Stirn. »Hizahri.«

      Naomi fragte sich, was das merkwürdige Wort bedeutete. Es klang nicht wie Englisch oder Spanisch. In ihren Schläfen breitete sich ein Gefühl der Taubheit aus, als ob sie Kopfschmerzen bekäme. Sie hatte eine Vision von einer jungen Frau mit langem dunklen Haar und hellblauen Augen. Es verschlug ihr den Atem. Sie sah aus, wie sie aussehen würde, wenn sie erwachsen wäre. Es war, als zeigte Rebecca ihr die Zukunft. Aber das konnte nicht sein. Die junge Frau sah aus, als sei sie eben aus dem Film Die zehn Gebote herausgetreten. Das waren die längsten vier Stunden gewesen, die sie jemals mit Belita bei einem Film hatte zubringen müssen.

      Die Vision veränderte sich und wurde zu einem jungen Mann, der Rebecca ähnlich sah. Der Mann sah umwerfend gut aus – und stark. Als er sich der jungen Frau näherte, lächelte sie und nannte ihn »Lahash«.

      Rebecca nahm die Hände weg und die Vision verschwand.

      »Hey, ich will noch mehr sehen.« Der Mann, der Lahash hieß, kam ihr bekannt vor. Vielleicht hatte sie ihn in einem der Krippenspiele gesehen, zu denen Belita sie in den Feiertagen um Weihnachten gern schleppte. Das war der einzige Anlass, bei dem sie sich daran erinnern konnte, Männer in Roben gesehen zu haben, die lange Stäbe bei sich trugen.

      »Tut mir leid. Mehr kann ich dir nicht zeigen.«

      »Wieso nicht?«

      »Sagen wir einfach, ich könnte bei meinem Boss in Schwierigkeiten geraten für das, was ich dir gezeigt habe.« Sie erhob sich und trat auf das Laken auf der Wäscheleine zu.

      »Warte! Wann werde ich Sie wiedersehen?« Naomi strich sich den Pony aus der verschwitzten Stirn.

      »Für eine ganze Weile nicht«, antwortete Rebecca und drehte sich um, um sie anzusehen. »Und ich fürchte, wenn ich zurückkehre, wirst du mich nicht sehen.«

      »Wieso nicht?«

      Sie rieb sich die Augen, als Rebeccas Körper vor ihr verblasste. »Weil die Menschen aufhören zu glauben, wenn sie erwachsen werden.«

      »Das werde ich nicht. Bitte komm zurück und zeig mir mehr. Ich werde nicht aufhören zu glauben.«

      Rebecca lächelte sie sanft an. »Und genau deshalb bist du etwas Besonderes, Naomi.«

      Dann war sie verschwunden.

      Naomi starrte Rebecca mit offenem Mund an. Ein sanftes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie aufhörte zu sprechen. Jeder der Anwesenden im Zimmer – Jeremy, Lash, Uri, Rachel, Raphael, sogar Gabrielle – sahen Rebecca voll gespannter Erwartung an.

      Als Rebecca begonnen hatte, zu erzählen, wie sie Raphael kennengelernt hatte, hatte Naomi nicht damit gerechnet, dass sie damit beginnen würde, wie sie mit Chuy und Lalo Verstecken gespielt hatte.

      »Ich glaube…«, begann Naomi und durchbrach das Schweigen. »Ich erinnere mich daran. Ich dachte nicht, dass es wirklich passiert ist. Ich dachte, es sei ein Traum gewesen. Wie damals, als ich träumte, dass die Figuren aus der Sesamstraße bei uns im Viertel eine Parade abhielten.«

      »Du hast von Bibo geträumt?« Lash grinste schief.

      »Wer ist Bibo?«, fragte Uri im Flüsterton.

      »Zeig ich dir später«, flüsterte Rachel zurück.

      »Oh, hört sich ziemlich pervers an.«

      Bei Uris Antwort verdrehte Naomi die Augen. »Das tut jetzt nichts zur Sache«, wandte sie sich an Lash. »Als ich klein war, fühlten sich meine Träume so echt an, dass ich dachte, sie wären wirklich. Als ich älter wurde, wusste ich es besser. Wie zum Beispiel, dass es unmöglich war, dass Bibo und Schnuffi mitten in der Nach vor meinem Haus standen. Ich habe immer angenommen, dass es ein Traum war.«

      »Also dachtest du, als du Rebecca begegnet bist, das sei auch ein Traum gewesen«, sagte Gabrielle.

      »Danke, ja. Ich meine, ich war noch ein Kind und dann… bin ich erwachsen geworden.« Sie sah wieder zu Rebecca und schluckte schwer. »Und ich habe mein Versprechen gebrochen. Ich habe aufgehört zu glauben.«

      Wann ist das passiert? Ist das wirklich, was passiert, wenn man erwachsen wird? Naomi war nachdenklich.

      »Oh nein.« Sie wandte sich an Lash. »Was, wenn ich nie aufgehört hätte, zu glauben? Was, wenn ich daran festgehalten hätte? Vielleicht hätte ich mich an dich erinnert. Ich meine, kurz nachdem ich dich getroffen hatte, gab es Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dich zu kennen. Da waren Bruchstücke von Erinnerungen, die in meinem Kopf aufgetaucht sind. Das war ganz merkwürdig. Ich wusste nicht, wo sie herkamen. Jedes Mal, wenn ich mit dir zusammen war, hatte ich ein Déjà-vu und habe es einfach immer verdrängt.«

      »Du hast es nicht gewusst«, antwortete er und ergriff ihre Hand. »Hey, das habe ich auch nicht.«

      »Naomi.« Rebecca kam durch das Zimmer auf sie zu. Lash rückte beiseite, um ihr Platz zu machen und sie setzte sich zwischen sie. »Ich habe diese Begebenheit nicht mit dir geteilt, damit du dich schlecht fühlst. Ich wollte, dass du verstehst, dass ich immer da war, gewartet und nach dir Ausschau gehalten habe.«

      »Warum?«

      »Das ist Teil unserer Familiengeschichte.«

      »Unsere Geschichte ist nicht leicht zu erzählen«, warf Raphael ein. »Wir alle« – er machte eine Handbewegung, die alle im Raum miteinbezog – »haben das, was sich vor langer Zeit ereignet hat, unterschiedlich erlebt. Wenn wir alle teilen, woran wir uns erinnern, können wir leichter verstehen, was damals geschehen ist. Soll ich anfangen?«

      »Okay«, antwortete Naomi und die anderen nickten.

      »Alles begann, als Raguel – Verzeihung, ich meine Rachel – und ich zu einer Mission in die Stadt Ai geschickt wurden.«

      »Grundgütiger«, sagte Rachel. »Das ist so lange her. An diese Zeit habe ich schon Ewigkeiten nicht mehr zurückgedacht. Das war damals, als ich für Obadiah meinen Namen geändert habe.«

      »Ich dachte, du hättest deinen Namen geändert, weil Jeremy anfing, dich Ragout-Spaghettisoße zu nennen«, warf Lash ein.

      »So habe ich sie nicht genannt«, wehrte Jeremy ab. »Moment mal – hab ich doch.«

      »Ein