Peter Gerdes

Ostfriesische Verhältnisse


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      2.

      »Und? Ist er außer Lebensgefahr?« Hauptkommissar Stahnke war mitten in der Bewegung erstarrt, die tropfende Regenjacke am ausgestreckten Arm, zehn Zentimeter vor dem Garderobenhaken. Nach dem, was er da gerade vom Kollegen Kramer erfahren hatte, lohnte es sich gar nicht, die Jacke aufzuhängen, weil sie ja doch gleich wieder los mussten.

      Kramer nickte bedächtig. »Das ist er und das war er, von Anfang an. Die Schusswunde ist nämlich nicht lebensbedrohlich. Mal abgesehen vom Blutverlust, aber es gab ja zum Glück Zeugen, die sofort einen Rettungswagen gerufen haben. Und uns.«

      Und zum Glück nicht mich, dachte Stahnke. Immerhin, ein Mordanschlag, wenn auch ein offenbar missglückter – da hätte man auch gleich das komplette Besteck anfordern können. Gut, dass Kramer Rufbereitschaft gehabt und anders entschieden hatte, warum auch immer. Denn Stahnke hatte gestern Abend mit ein paar Segelkameraden gefeiert. Zwar nicht die deutsche Einheit, sondern Saisonschluss, aber Alkohol hatte es reichlich gegeben.

      Ob es daran lag, dass er sich immer noch nicht entscheiden konnte, wie nun mit der nassgeregneten Jacke zu verfahren war? Irgendwie fehlte ihm noch Input. »Wohin wurde es denn getroffen, das Anschlagsopfer?«, fragte er aufs Geratewohl.

      »In den verlängerten Rücken«, informierte Kramer ihn prompt, ohne eine Miene zu verziehen. »Steckschuss.«

      »In den … Allerwertesten?« Jetzt ließ der Hauptkommissar die Jacke doch auf den Haken sinken. Er benötigte beide Hände, um sie sich in die Seiten zu stemmen. »Wie konnte das denn passieren? Also, ich meine natürlich – war es ein Fehlschuss aus größerer Distanz?«

      »Wohl nicht.« Natürlich war Kramer wieder bestens informiert. »Die Entfernung war eher gering, so sehen es jedenfalls die Zeugen. Allerdings wurde im Vorbeifahren geschossen, und zwar von einem Motorrad aus. Ein Schuss und dann blitzartig ab durch die Mitte.«

      Stahnke pfiff durch die Zähne und ließ sich schwer auf den nächstbesten Stuhl fallen. »Ach nee. So weit sind wir schon? Bei den Amis gibt’s das ja öfter. Nennt sich Drive-by. Wird gerne von rivalisierenden Banden praktiziert, wegen Gebietsabgrenzungen und so.« Er runzelte die Stirn. »Interessieren sich jetzt schon Kuttenträger für die Leeraner Altstadt?«

      »Darauf weist derzeit nichts hin«, antwortete Kramer mit stoischem Ernst. »Zumal das Opfer dieses Drive-by kein einschlägig bekannter Krimineller ist, sondern ein wohlangesehenes, wenn auch noch junges Mitglied der Leeraner Kaufmannschaft.«

      »So. Na dann.« Der Hauptkommissar ersparte sich einen Exkurs über gewisse Parallelen zwischen krimineller und kaufmännischer Energie. Schließlich musste man hier mal vom Fleck kommen, auch wenn Kramer offenbar ausgezeichnete Vorarbeit geleistet hatte. »Name?«

      »Oliver Eickhoff. Sohn von Karl-Friedrich Eickhoff, dem Kaufhaus-Tycoon.«

      »Oha.« Und ob man vom Fleck kommen musste, und zwar schnell! Nicht mehr lange, und die gesamte regionale und überregionale Presse würde ihnen auf den Zehen stehen. Sofern dort noch Platz war vor lauter drängelnder Lokalprominenz. »Hast du ihn schon einvernommen? Beziehungsweise: Ist er schon vernehmungsfähig?«

      »Nein und ja. Ich dachte, das machen wir zusammen.«

      Stahnke nickte beifällig. »Wo liegt er denn, Borromäus oder Kreis?«

      »Kreiskrankenhaus. Beziehungsweise Klinikum, wie es ja seit geraumer Zeit heißt.« Kramer nahm es wie immer genau.

      Stahnke seufzte und erhob sich. Seine Regenjacke war immer noch nass. Wieder erstarrte er mit ausgestrecktem Arm. »Vom fahrenden Motorrad aus niedergeschossen, ja?«

      »Wie schon gesagt.« Kramer verschränkte die Arme.

      »Und die Maschine ist unmittelbar nach dem Schuss mit hoher Fahrt davongebraust, richtig? Darf ich deine Worte so interpretieren?«

      »Darfst du.«

      »Und das Opfer wurde auf welchem Bürgersteig aufgefunden?«

      »In Fahrtrichtung rechts. Wieso?« Jetzt merkte man sogar einem Stoiker wie Oberkommissar Kramer an, dass er neugierig war.

      Stahnke knickte seine immer noch ausgestreckte Hand im Gelenk ab, als würde er an einem Gasgriff drehen. »Weil alle Motorräder, die ich kenne, das Gas rechts haben«, sagte er. »Was dir übrigens auch bekannt sein müsste, schließlich hattest du doch selber auch mal ein Bike. Wenn man den Griff loslässt, dreht er sich automatisch zurück auf Standgas. Bei voller Fahrt ist das nicht angenehm. Das heißt …«, Stahnke deutet den Griff in die Innentasche einer Jacke an, die er gar nicht trug, »der Täter müsste kurz vor Erreichen seines Opfers den Gasgriff losgelassen, seine Waffe gezogen, gezielt und den Schuss abgegeben sowie anschließend die Pistole wieder eingesteckt haben. Erst danach konnte er wieder Gas geben – und musste vorher auch noch herunterschalten, um wirklich blitzartig, wie du es nanntest, abdüsen zu können. Der eigentliche Drive-by müsste sich also in besserem Schritttempo abgespielt haben. So klang mir die Schilderung aber nicht.«

      »Das stimmt«, musste Kramer zugeben. »Aber vielleicht war die Waffe ja irgendwie anders platziert? Griffbereiter?«

      »Und damit offen sichtbar?« Stahnke schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich.«

      »Oder der Täter hatte den Choke gezogen? Dann dreht der Motor doch höhere Touren.«

      »Das erklärt das anschließende sofortige Beschleunigen nicht, wenn der Täter die Hand am Gasgriff nicht frei hat. Es sei denn, er hätte die Waffe sofort fallen lassen. Aber gefunden wurde sie ja wohl nicht, oder?«

      »Nein«, bestätigte Kramer. »Dann bleibt eigentlich nur noch eins.«

      »Genau. Der Täter muss Linkshänder gewesen sein.« Stahnke klatschte in die Hände.

      »Und das wiederum bedeutet, dass er vor seinem eigenen Körper entlang geschossen haben muss, zur falschen Seite sozusagen«, spann Kramer den Faden weiter. »Was erklären würde, warum sein Schuss so schlecht gezielt war.«

      »Welche Arschbacke wurde denn getroffen?«

      »Die linke. Würde passen.«

      »Wie Arsch auf Eimer.« Stahnke griff erneut nach seiner Regenjacke. Diesmal richtig. »Mal hören, was uns der junge Mann selber noch Erhellendes zum Tathergang erzählen kann«, sagte er im Gehen.

      3.

      »Polizei, ja? Kommen Sie auch schon!«, keifte der blonde Jüngling, kaum dass Stahnke die Tür zum Krankenzimmer geöffnet hatte. »Wird langsam Zeit! Oder fanden Sie es nicht so wichtig, dass man in Ihrer Stadt auf offener Straße seines Lebens nicht mehr sicher ist?«

      So also sieht einer aus, der mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden ist, dachte Stahnke. Noch ein halbes Baby und schon stellvertretender Geschäftsführer. Und so hört er sich auch an. Wenn ihm das schon derart gegen den Strich ging – was sollten dann die Leute sagen, die so einen Pimpf als Vorgesetzten hatten?

      Na ja, wenn sie ihn so sehen könnten, auf dem Bauch liegend, das verbundene Gesäß halb freigestrampelt, das Gesicht nicht nur vom Schimpfen verzerrt, dann würde es diesen Leuten vielleicht schon ein bisschen besser gehen. Selbst Stahnke spürte einen Anflug von Schadenfreude, für den er sich nicht einmal schämte. Kam er hier vielleicht gedanklich in die Nähe eines Tatmotivs?

      »Guten Morgen, Herr Eickhoff«, grüßte er betont freundlich und stellte sich und Kramer vor. »Es freut mich zu sehen, dass Sie schon wieder so weit hergestellt sind. Wenn man bedenkt, was Sie hinter sich haben – das hätte ja auch anders ausgehen können.«

      Der Hauptkommissar hatte deutlich den Ärger erkennen können, der die helle Haut von Oliver Eickhoffs Gesicht zwischen den schräg hängenden Ponyfransen rötlich getönt hatte. Mit Stahnkes Worten aber war dieser Ausdruck wie weggewischt. Jetzt sprach schiere Panik aus den kindlichen Zügen. Dann wandte sich der junge Mann ab und drückte sein Gesicht ins Kopfkissen.

      Veräppeln lässt er sich nicht gerne, registrierte Stahnke. Verständlich. Aufbrausend