Mia C. Brunner

Tödliche Klamm


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älteren Damen, die in diesem Mehrfamilienhaus wohnten, schätzten seine überschwängliche Höflichkeit, seine Hilfsbereitschaft und sein humorvolles Wesen. Er hatte die sonst so zurückhaltende, etwas grantige und misstrauische Allgäuer Frauenwelt hier im Haus im Sturm erobert. Bei den Männern war das anders. Den Allgäuer Männern hielt er einen Spiegel vor, in dem sie sich selbst nicht wiedererkannten und sich äußerst bedroht fühlten. Doch Rico quittierte jede versteckte Beleidigung oder unangebrachte Bemerkung mit einem freundlichen Lächeln.

      »Du musst gut aufpassen«, wiederholte er jetzt Svenjas Worte und lachte so schallend, dass Jessica ebenfalls bessere Laune bekam, sich auch von ihrem zweiten Schuh befreite und das Paar achtlos in die Ecke warf.

      »Hast du alle Mörder gefasst und eingesperrt, Jessica?«, fragte Rico grinsend. Seit drei Tagen, seit Jessica ihren Job im Kemptener Präsidium angetreten hatte, stellte er ihr diese Frage immer, wenn sie die Wohnung zu Feierabend betrat.

      »Ausnahmslos alle«, gab Jessica dann immer augenzwinkernd Auskunft. »Wir werden heute also gut schlafen können.«

      Es schneite so heftig, dass der Scheibenwischer an Hauptkommissar Forsters Dienstwagen auf Hochtouren lief und trotzdem kaum die Windschutzscheibe freihalten konnte. Beinahe hätte er den Abbieger verpasst, weil er die abzweigende Straße durch das Schneegestöber nicht gesehen hatte.

      »Kreuzkruzifix«, fluchte er und riss das Lenkrad herum, als der Wagen nach der Kurve dem Graben neben der Straße gefährlich nah kam. Die Hinterräder des Autos schlitterten über den mit Schnee bedeckten Asphalt. Doch Florian hatte das Fahrzeug schnell wieder im Griff, drosselte jetzt aber vorsorglich das Tempo. Mit gerade einmal 15 Stundenkilometer lenkte er den Wagen durch den Schneesturm und starrte dabei angestrengt auf die Straße vor sich.

      »Welcher depperte Siach geht bei so einem Wetter bloß wandern? Wahrscheinlich irgend so ein Flachlandtourist«, schimpfte er ärgerlich, doch von seinem Kollegen Willig auf dem Beifahrersitz kam keine Reaktion. Berthold hielt sich krampfhaft am Innengriff der Beifahrertür fest und hatte die Augen weit aufgerissen, als würde er Achterbahn fahren und direkt auf einen dreifachen Looping zurasen. Welchen depperten Wanderer sein Chef meinte, konnte Berthold eh nur spekulieren. Er vermutete, Forster sprach von dem Herrn, der die Polizei gerufen hatte, weil er auf seiner morgendlichen Tour durch die Breitachklamm eine Leiche gefunden hatte, und nicht von der Leiche selbst. Das wäre immerhin etwas pietätlos gewesen.

      Nach mehreren Wochen Tauwetter und Temperaturen über zehn Grad hatte der Winter sich heute Mittag mit Unwetter und bis zum Nachmittag mit fast 40 Zentimetern Neuschnee zurückgemeldet. Die Schneeräumfahrzeuge kamen kaum hinterher, wenigstens die Hauptverkehrsstraßen einigermaßen frei zu halten, der große Parkplatz vor dem Eingang der Breitachklamm war ein einziges weißes Meer aus Schnee. Jetzt gab Hauptkommissar Forster noch einmal Gas und pflügte den Streifenwagen durch den Schnee. Er wollte so nah wie möglich an das kleine Tickethäuschen kommen und hoffte inständig, dass er sich gut genug erinnern konnte, wo ungefähr die Holzpfosten standen, die die Bereiche des Parkplatzes abgrenzten und in Parzellen einteilten.

      Er war vor über zwei Jahren das letzte Mal hier gewesen. Im Sommer.

      Direkt hinter ihm fuhr Erwin Buchmann, der Gerichtsmediziner, zusammen mit seiner Kollegin in einem weißen Transporter. Er nutzte die kurzzeitig entstandene Fahrrinne von Florians Wagen. Ohne sie wäre er vermutlich schon am Anfang des Parkplatzes mit dem schweren Fahrzeug im Schnee stecken geblieben.

      Hauptkommissar Forster hielt direkt vor dem Eingang zur Klamm und wollte gerade aussteigen, als sein Dienstwagen einen kleinen Satz nach vorne machte und dann langsam gegen einen dieser Pfosten rutschte, die nur noch wenige Zentimeter aus dem Schnee herausschauten. Als der Transporter die hintere Stoßstange des Dienstwagens zusammendrückte, die ächzend ein metallisch knirschendes Geräusch von sich gab, war Florian bereits aus dem Wagen gesprungen und versank augenblicklich bis zum Knie im Schnee.

      Er schloss die Augen, atmete einmal tief durch und wartete mehrere Sekunden, bis er sich schließlich umdrehte, Jacke und Mütze vom Rücksitz holte, sich seinen Schal dreimal um den Hals wickelte und in die Daunenjacke schlüpfte.

      »Sag mal, wo hast du eigentlich fahren gelernt, du Zipfel?«, fuhr er schließlich Erwin Buchmann an, als der aus dem Transporter stieg und ebenfalls laut fluchte.

      »’tschuldige, Mann. Konnte nicht rechtzeitig bremsen.«

      Die vier mussten beinahe eine halbe Stunde gehen, bis sie den vermeintlichen Unfallort erreichten. Dort trafen sie auf das Team der österreichischen Bergrettung aus dem Kleinwalsertal, das zuerst gerufen worden war. Doch die Unglücksstelle lag auf deutschem Boden, sodass die Zuständigkeit den deutschen Kriminalbeamten oblag.

      Direkt vor ihnen klaffte ein großes Loch. Ein gewaltiger Erdrutsch hatte mindestens zwei Meter des Weges mitgerissen, auf dem sie standen, und Schutt, Felsbrocken und Erde in die weiter unten liegende Breitach gespült. Vom Fluss selbst war von hier oben nichts zu sehen, denn es war jetzt am späten Nachmittag bereits so dunkel, dass Florian kaum mehr als die Umrisse seiner Kollegen erkennen konnte. Doch das Rauschen des Wassers dröhnte laut und klang bedrohlich. Einen Sturz aus dieser Höhe in den reißenden Fluss würde man wohl nur schwerverletzt überleben.

      Wenn man viel Glück hatte.

      »Waren Sie schon unten?«, fragte der Hauptkommissar den Bergretter auf der anderen Seite der breiten Grube zwischen ihnen und leuchtete gleichzeitig mit seiner Taschenlampe suchend über die entstandene Schutthalde.

      »Die Leiche liegt weiter unten. Ich war schon dort«, gab der junge Mann Auskunft. »Wenn Sie runter wollen, muss ich Sie abseilen, anders ist es unmöglich.«

      Jetzt sah Florian die Seile, die weiter oben an einem Baum befestigt und mit allerlei Karabinerhaken und Knoten gesichert waren. »Na, dann wollen wir mal.« Der Hauptkommissar seufzte. »Ich gehe zuerst. Ewe, du kommst nach. Die anderen beiden bleiben hier oben«, befahl er, fing das Gurtsystem auf, das der Bergretter ihm zuwarf, und ließ sich schließlich beim Abstieg helfen, ohne zu wissen, was ihn dort unten erwarten würde.

      Der Scheinwerfer war über und über mit Dreck überzogen. Das Gerät war genau wie er beim Herunterlassen durch braunen Schlamm gerutscht und an Felsen geschlagen. Sollte er jemals wieder diese schleimige Soße von seinem Körper und seinen Klamotten bekommen, würden die unzähligen blauen Flecken sichtbar werden, die er an Armen und Beinen hatte. Sich in dieser Dunkelheit einen felsigen und nassen Abgrund abseilen zu lassen, war keine gute Idee gewesen, leider aber eine Notwendigkeit. Mit dem Ärmel seiner verschmutzten Jacke wischte er die matschige Dreckschicht vom Scheinwerfer und endlich wurde es etwas heller hier unten.

      »Obacht«, hörte er Ewes Stimme weiter oben brüllen, gefolgt von einem polternden Geräusch, das stetig lauter wurde und auf ihn zuzukommen schien. Geistesgegenwärtig sprang Hauptkommissar Forster zurück, trat dabei ungeschickt auf einen glitschigen Stein, rutschte aus und landete schmerzhaft auf seinem Hinterteil. Der schwere Metallkoffer des Gerichtsmediziners, der sich verselbständigt hatte, krachte im gleichen Augenblick gegen eine Felswand neben ihm und blieb dort liegen. Das Teil hätte ihn nicht nur von den Füßen gerissen, sondern ihm vermutlich beide Schienbeine gebrochen.

      »Das ist heute schon der zweite Anschlag auf mein Leben«, brüllte Florian seinem Freund Ewe entgegen, um den tosenden Lärm der Breitach hinter ihm zu übertönen.

      »Tut mir echt leid«, schrie der Gerichtsmediziner. »Hast du die Leiche schon gefunden?« Er glitt den letzten Felsvorsprung hinunter, stand schließlich direkt neben Florian und löste den Karabiner an seinen Gurten. »Die Österreicher meinen, sie liegt etwas weiter flussabwärts.«

      Den Anblick hätte er sich gern erspart. Das, was sie schließlich fanden, das, was der Wanderer als Leiche erkannt haben will, sah alles andere als menschlich aus. Florian hatte eine Person erwartet, die tragischerweise beim unerlaubten Klettern abgerutscht war und seit zwei oder drei Tagen unentdeckt in einer Felsspalte lag. Das, was sie fanden, war zuerst nur ein Schädel. Ein menschlicher Schädel ohne Nase, ohne Augen. Eine Gesichtshälfte war zerfetzt und von teils ledriger, teils schleimiger Haut bedeckt. Die andere Hälfte war blanker Knochen. Etwa einen Meter entfernt lag der Torso, ebenfalls nahezu vollständig skelettiert