ihn schon ein bisschen. Im Kaffeehaus hatte Frau Susi seines Wissens nie Alkohol getrunken.
Langsam erkannte Leopold, dass sich ihm immer mehr Fragen stellten, auf die er keine Antwort wusste. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, seinen Freund Richard Juricek bei der Mordkommission anzurufen.
»So, jetzt werden Sie endlich erlöst, Herr Berger«, sagte er, als er wieder durchs Vorzimmer ins Wohnzimmer gehen wollte. Da fühlte er plötzlich eine merkwürdige Stille um sich. Er hob die Augen, und sein Herz schlug jetzt merkbar schneller.
Das Vorzimmer war leer. Herr Berger war nicht mehr da.
*
»Herr Berger?«
Ungehört verhallte diese reflexartig gestellte Frage im Raum. Herr Berger war verschwunden, hatte das Weite gesucht, hatte sich still und heimlich aus dem Staub gemacht. Leopold war mit der Leiche allein.
Die Stille behagte ihm nicht. Es war einer jener Augenblicke, in denen seine sonstige Selbstsicherheit auf die Probe gestellt wurde. Oft waren es diese kleinen, überraschenden Wendungen, die ihn kurz aus dem Tritt brachten, ehe er wieder klar zu denken begann. »Ich bin ja selber schuld, wenn ich jetzt dastehe wie bestellt und nicht abgeholt«, sagte er zu sich. »Ich habe es eben wieder einmal übertrieben. Trotzdem ist der Berger ein elender Feigling!«
Der Mantel! Vor Leopolds Augen hing jener dunkelblaue Mantel, den Frau Susi gestern im Kaffeehaus angehabt hatte. Er hatte deutlich gesehen, dass innen etwas Weißes herausleuchtete, als er ihr hineingeholfen hatte. Beinahe hätte er vergessen, dass er auch deswegen in diese Wohnung gekommen war. Voller Erwartung machte er einen fachmännischen Griff in die Innentasche des Mantels, und sein Erinnerungsvermögen wurde belohnt. Zwei Dinge fanden sich in seiner Hand: ein Brief und eine Notiz auf einem Zettel. Der Brief war an Gertrud Niedermayer in Groß Enzersdorf adressiert, es klebte aber noch keine Marke darauf, und das schien auch der Grund zu sein, warum er noch nicht aufgegeben war. Auf dem Zettel stand eine Telefonnummer: 271 77 85.
›Merkwürdig‹, dachte Leopold, ›jetzt hat die mit ihrer Schwester tatsächlich nur mehr schriftlich verkehrt.‹ Er steckte sicherheitshalber Brief und Notiz ein.
Als er überlegte, was nun weiter zu tun war, läutete es zweimal an der Tür. Er zuckte zusammen. »Herr Berger?«, rief er nochmals fragend und unsicher.
Statt einer Antwort läutete es wiederum. »Machen Sie auf«, sagte eine schrille Frauenstimme. »Ich weiß, dass Sie hier sind.«
»Wer ist da?«, fragte Leopold. Zögernd öffnete er die Tür einen Spalt breit. Draußen stand eine Frau unbestimmten Alters, nicht mehr taufrisch, aber jünger als die Ermordete. Sie hatte schwarzes, grau durchzogenes, fettiges Haar, das nach hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Das Gesicht war stark geschminkt und hatte sicher mehr Falten, als man in dem diesigen Licht erkennen konnte. »Ich heiße Maria Ivanschitz«, sagte sie. »Und Sie sind sicher der Herr Leopold!«
»Woher wissen Sie denn das?«, fragte Leopold misstrauisch.
»Vom Herrn Berger. Er ist gerade ganz aufgeregt auf dem Gang gestanden, als ich ihn zufällig durch meinen Türspion gesehen habe. Ich bin nämlich die Nachbarin von gegenüber. Na, und wie ich ihn so sehe, habe ich die Tür aufgemacht und ihn gefragt, was denn los ist, was er denn hat, ob etwas mit der Frau Susi ist. Er war ja heute schon einmal da, wie Sie wissen, und ist da gleich wieder weggerannt. Kurzum« – sie holte einmal tief Luft – »kurzum, er sitzt jetzt bei mir auf ein Schalerl Kaffee und hat mir gesagt, dass Sie auch hier sind. Sagen Sie, stimmt es, dass die Frau Susi tot ist? Dass man sie … erschlagen hat?«
»Sie können ja selber nachschauen«, meinte Leopold, immer noch misstrauisch.
»Nein, nein, lieber nicht! Ich glaub Ihnen schon. Mein Gott, ist das schrecklich!« Sie versuchte zu lächeln. »Aber warum stehen wir denn hier auf dem Gang herum, wo es so furchtbar ungemütlich ist und uns jeder hören kann. Kommen Sie doch auch zu mir herüber, es ist noch genug Kaffee da. Außerdem möchte ich Ihnen was erzählen, bevor die Polizei kommt. Ich habe da nämlich gestern einige Beobachtungen gemacht.«
Leopold zog wie in Trance die Türe hinter sich zu. Es hatte ihm einfach die Sprache verschlagen. Sogar den Bildband über Kalifornien hatte er vergessen. Diese Frau hatte ihn sozusagen kalt erwischt, und er reagierte im Augenblick mehr, als selbst irgendwelche Aktivitäten zu starten. Zusätzlich machte ihm das penetrante Organ der Frau Ivanschitz zu schaffen.
»Nur herein in die gute Stube«, hallte es ihm schon wieder entgegen, während Frau Ivanschitz die Wohnungstüre aufschloss. »Sagen Sie, ist es wahr, dass Sie schon auf eigene Faust Nachforschungen angestellt haben, wie der Herr Berger sagt?«
»Langsam, langsam«, sagte Leopold. »Ich bin nur ein einfacher Ober vom Kaffeehaus vorne an der Ecke. Die Frau Susi war Stammgast bei uns, und natürlich interessiert man sich da. Außerdem werden wir, wie Sie richtig bemerkt haben, alle von der Polizei befragt werden, und da muss man sich schon alles genau anschauen und einprägen, damit einem nicht das Wort im Mund herumgedreht wird.«
»Sie sagen es, Sie sind ein gescheiter Mann«, bemerkte Frau Ivanschitz. »So, kommen Sie nur weiter.«
Leopold folgte ihr in die Küche, wo Herr Berger sichtlich erleichtert beim Kaffee saß und mit einem kaum merkbaren, schadenfrohen Grinsen die Schale zu seinem Mund hob. »Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten«, sagte er entschuldigend, und Leopold meinte, dabei ein leichtes Augenzwinkern in seine Richtung wahrzunehmen.
Ja, ja, der Herr Berger! Ein undankbarer, ungeduldiger Patron, ein Opportunist. Und ein Feigling obendrein. Mit dem würde man nicht einmal kleine Ponys stehlen können. Aber mehr noch als über den ängstlichen, im Grunde harmlosen Mann ärgerte sich Leopold über sich selbst. Diese Frau hatte etwas Magisch-Aufdringliches an sich. Das war aber noch lange kein Grund, sich von ihr einfach in die Defensive drängen zu lassen.
»Mit Milch und Zucker?« Schon wieder diese penetrante Stimme, die so gar nichts Anheimelndes besaß.
»Etwas Milch und zwei Zucker, bitte!«
Leopold versuchte, seine Gedanken wieder in Ordnung zu bringen. Dabei stellte er sich gleich die Frage, ob nicht Frau Ivanschitz auch als Täterin in Frage kam. Warum nicht? Sie lebte in unmittelbarer Nähe der Toten, kannte ihre Gewohnheiten und konnte sich jederzeit Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft haben. Ein vertrauliches Klopfen hätte genügt. Etwa so:
»Frau Niedermayer, sind Sie noch wach?«
»Bin ich froh, dass ich jetzt da sitze«, murmelte Berger in der Zwischenzeit vor sich hin. »Nach dem ganzen Schock! Nein, nein, die Frau Ivanschitz ist eine Perle, das muss man schon sagen.«
Eine sehr ordnungsliebende Perle, schoss es Leopold durch den Kopf. Schau, schau, wie blitzblank hier alles ist. Wie drüben am Tatort. Das passte irgendwie zusammen. Man konnte Frau Ivanschitz nicht von vorneherein als Täterin ausschließen.
»So, da ist der Kaffee. Kann ich mit noch etwas dienen?«, fragte Frau Ivanschitz.
»Einen Aschenbecher, bitte, wenn Sie so lieb sind«, sagte Leopold und zog ein Packerl Ernte 23 aus der Sakkotasche. »Ich würde auf den Schreck gern eine rauchen.«
»Gern hab ich das ja nicht«, sagte Maria Ivanschitz, »aber wenn es unbedingt sein muss. Meinem Mann kann ich es auch nicht abgewöhnen, der raucht immer noch zwei, drei, wenn er nach Hause kommt. Passen Sie halt auf, dass keine Asche daneben geht, das ist so hässlich!«
Als sie mit dem Aschenbecher kam, legte sie los:
»So, jetzt muss ich Ihnen aber erzählen, was ich gestern und in der Nacht auf heute alles beobachtet habe.«
»Ich bitte darum«, sagte Leopold, während er sich eine Zigarette anzündete.
»Also, so viel los war bei der Frau Susi schon lange nicht mehr. Gestern Nachmittag habe ich gehört, wie sie laut geschrien und mit einer anderen Frau gestritten hat. Wie ich so nachschauen will, was da los ist, geht auch schon die Türe auf und heraus kommt ihre Schwester Gertrud, die hier früher einmal zusammen mit ihr gewohnt hat. Ich habe nicht schlecht gestaunt. Die beiden