Wesentlich langsamer als auf dem Hinweg legten Philippos und Laurenz die wenigen Meilen zum Haus des Griechen zurück. Auch dort herrschte inzwischen reges Treiben, weshalb Philippos sich kurz nach ihrer Ankunft von Laurenz verabschiedete. Allein mit den Knechten sah er sich unschlüssig im Hof um. Was sollte er jetzt anfangen? Sein Blick suchte den überdachten Gang im ersten Stock ab. Doch egal, wie sehr er sich anstrengte, es war weit und breit kein Zeichen von Olivera zu entdecken.
Kapitel 5
Konstantinopel, Juli 1408
Beinahe drei Tage vergingen, ehe Olivera Laurenz wieder aus der Nähe sah. Drei Tage voller Unsicherheit, Ärger und Sehnsucht. Zwar hatte sie ihn mehr als einmal aus der Ferne erspäht, allerdings nie länger als ein paar flüchtige Augenblicke.
»Es ist besser, wenn die Männer ihre Angelegenheiten ohne uns besprechen«, wiederholte ihre Yiayia am Morgen des dritten Tages die Ansicht, die drohte, Olivera in die Verzweiflung zu treiben. Wie um Himmels willen sollte sie Laurenz betören, wenn sie keine Gelegenheit dazu hatte? Wie sollte sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen, wenn man sie von ihm fernhielt? Es war zum Verrücktwerden!
»Ich fürchte, wir müssen auf den Markt«, murmelte ihre Großmutter – blind für den Aufruhr, der in ihrer Enkelin herrschte. Sie hob den Deckel eines großen Tongefäßes und kippte es, um besser hineinsehen zu können. Seit über zwei Stunden standen sie und Olivera bereits wieder in der Arzneiküche und bereiteten die Salben und Tinkturen zu, die Oliveras Vater im Laden verkaufte.
»Der Medicus hat Kyphi bestellt und ich habe kaum mehr genügend Zutaten«, stellte die alte Frau nach einigem Graben in weiteren Behältern fest. »Mir scheint, ohne Kyphi würde er bei so manch eingebildetem Kranken nicht wissen, was er tun soll.« Sie lachte leise, und Olivera musste wider Willen ebenfalls schmunzeln.
Das uralte Allheilmittel, das teils als Trank verabreicht, teils als Mittel zur Einreibung verwendet wurde, erfreute sich äußerster Beliebtheit bei den reichen Patienten. Vermutlich lag es daran, dass es sündhaft teuer war, dachte Olivera nicht zum ersten Mal.
»Außerdem haben wir kaum noch Amber«, stellte ihre Yiayia nach dem Anheben von drei weiteren Deckeln fest. Sie griff nach einem kleinen Büchlein und einem Federkiel. »Steig auf die Leiter und sieh nach, was sonst noch fehlt«, trug sie ihrer Enkelin auf. Olivera tat, wie geheißen, und schon bald hielt ihre Großmutter eine lange Liste in der Hand.
»Mastix, Eisenkraut, Kardamon, Galgantwurzel, Zimtrinde, Iris, Zeder, Myrrhe, Benzoe und Dachsfett«, las die alte Frau vor. Sie tauchte den Federkiel erneut in die Tinte und murmelte: »Alraune, Schwefel und Mohn werden auch immer benötigt.« Ihr Blick glitt über die kleinen Gefäße, welche die Wand neben der größeren der beiden Feuerstellen säumten. »Und vom Süßholz ist auch nicht mehr so viel da, wie ich dachte.«
Olivera trat schuldbewusst einen Schritt zurück. Hoffentlich sah ihre Großmutter ihr das schlechte Gewissen nicht an, das sie bei diesen Worten auf die Lippe beißen ließ! Ihre Hand wanderte zu dem Säckchen in ihrer Tasche. Wenn doch nur endlich der geeignete Moment kommen würde! Sie sah resigniert dabei zu, wie ihre Yiayia die Liste vervollständigte. Wie lange würde Laurenz noch in Konstantinopel sein? Wie viel Zeit blieb ihr noch, um ihn an sich zu binden und ihr Ziel zu erreichen? War es dafür bald schon zu spät? Am liebsten hätte sie ihrer Enttäuschung lautstark Luft gemacht.
»Lauf und sage den Sänftenträgern, dass wir in einer halben Stunde aufbrechen wollen«, unterbrach die Stimme ihrer Großmutter ihr Brüten. »Und bring eine Flasche Wasser mit, es ist schon wieder so furchtbar heiß.«
Froh, der Arzneiküche zu entkommen, drückte Olivera sich durch die Tür nach draußen, wo sie sich unauffällig nach Laurenz umsah. Der Hof wimmelte an diesem Tag nur so von Läufern, Trägern, Fuhrwerken und Knechten, sodass es eine Weile dauerte, bis sie ihn im Schatten des Torbogens entdeckte. Dort steckte er den Kopf mit einem seiner Begleiter zusammen. Beide gestikulierten in Richtung Stadt. Sein Anblick sandte das inzwischen wohlbekannte Gefühl durch Oliveras Körper und sorgte dafür, dass ihre Beine sich plötzlich schwach anfühlten. Warum sehnte sie sich nur so entsetzlich danach, ihn zu berühren? Die Finger über seine hellen Wangen gleiten zu lassen und seine Lippen auf den ihren zu spüren? Sie unterdrückte ein Stöhnen und biss die Zähne aufeinander. Ein unsinniger Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Sie war genauso sündig wie Eva im Paradies! Vermutlich hatte diese den Apfel genauso schmerzlich begehrt wie sie den Mann, der sich Nacht für Nacht in ihre Träume schlich. Als er den Kopf hob und zu ihr hinübersah, war es beinahe, als würde sein Blick sie verbrennen. Einen Augenblick lang stand sie reglos da und starrte ihn an, bevor sie sich einen Ruck gab und sich auf unsicheren Beinen wieder in Bewegung setzte. Vorbei an Brunnen und Kräutergarten, überquerte sie den Hof, schlug die Augen nieder und floh in die Küche. Sobald sie eine Holzflasche für ihre Großmutter gefüllt hatte, drückte sie sich durch einen Seitenausgang zurück ins Freie und machte sich auf den Weg zum Lager. Dort waren die Männer ihres Vaters damit beschäftigt, Säcke, Ballen und Kisten zu stapeln. Doch als Olivera die Sänftenträger ausfindig gemacht hatte und ihnen auftrug, in einer halben Stunde zum Aufbruch bereit zu sein, schüttelte der Ältere der beiden bedauernd den Kopf.
»Es tut mir leid«, sagte er, »aber da müsst Ihr erst Euren Vater fragen.« Er wies mit dem Kinn auf den hinteren Teil des Gebäudes, wo sich das Tuchlager befand. »Er hat ausdrücklich befohlen, die Waren heute noch zu verstauen.«
Olivera wandte den Kopf und zählte die Wagen. Fünf Fuhrwerke – übermannshoch beladen – würden die Knechte bis in den Nachmittag hinein beschäftigen. Der Träger zuckte entschuldigend die Achseln. Er bückte sich nach einem Sack. Diesen warf er sich schnaufend über die Schulter, dann verschwand er in einer der engen Gasse zwischen den Warenbergen.
»Ich könnte Euch und Eure Großmutter begleiten.« Die Stimme erklang so dicht hinter ihr, dass sie mit einem leisen Schrei zusammenfuhr. »Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken«, sagte Laurenz, der sich ihr lautlos genähert hatte.
Als sie zu ihm aufblickte und das Lachen in seinen Augen sah, schoss ein Gefühl wie flüssiges Feuer durch ihre Adern. Amüsiert musterte er sie von oben bis unten und zu ihrem grenzenlosen Ärger wurde ihr klar, dass sie schon wieder errötet sein musste. »Natürlich kann ich keine Sänfte tragen«, scherzte er. »Aber als Geleitschutz wären ich und meine Männer gewiss zu gebrauchen.«
Olivera wollte ihn anlächeln, aber der Versuch misslang kläglich. Zu heftig hämmerte das Herz in ihrer Brust. Ihre Gesichtsmuskeln schienen ihr nicht mehr gehorchen zu wollen. Hilflos rang sie nach Worten, nach irgendetwas, das Eindruck auf ihn machen würde. Aber ihr Kopf war wie leer gefegt.
»Wo bleibst du, Kind?«, errettete ihre Großmutter sie nach einer scheinbaren Ewigkeit schließlich aus der peinlichen Lage. Wie ein schwarzer Racheengel kam diese über den Hof geeilt – erstaunlich flink für ihr Alter – und baute sich vor Laurenz auf. »Hatte ich nicht gesagt, du sollst die Sänfte bereitmachen lassen?«, schalt sie ihre Enkelin. Sie musterte den jungen Mann kühl und schob Olivera zur Seite.
»Vergebt mir«, sagte Laurenz mit einem bezaubernden Lächeln. »Ich habe sie aufgehalten. Aber …«
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, da Oliveras Großmutter ihm mit einer ungehaltenen Geste das Wort abschnitt.
»Geh zurück ins Haus, Kind«, befahl die alte Frau. Doch Oliveras Beine wollten ihr nicht gehorchen. Ehe ihre Yiayia weiter schimpfen konnte, erklang der Bass ihres Vaters aus den Tiefen des Lagerhauses.
»Was ist hier los?«, fragte er mit einem Stirnrunzeln. »Ihr streitet doch nicht etwa?« Sein Blick wanderte von dem missfälligen Gesicht seiner Mutter zu dem betreten dastehenden jungen Mann.
»Ich habe den Damen angeboten, sie zu begleiten«, erwiderte Laurenz, der sich erstaunlich schnell wieder fasste. »Da die Träger beschäftigt sind …« Er zuckte die Achseln.
»Und du hast etwas dagegen?«, fragte Oliveras Vater die Großmutter des Mädchens.
Die alte Dame presste die Lippen aufeinander. »Es ist nicht schicklich«, murmelte sie, was dem Hausherrn ein Lachen entlockte.
»Schicklich,