Die, die hinausliefen, wurden geschändet, gefoltert und getötet. Darunter waren auch Lisbeth Knoll und ihre drei Töchter, die in der Nacht heimlich das Haus verlassen hatten, in der Hoffnung, der Dom würde der sicherste Platz sein, sollte es zum Sturm auf die Stadt kommen.
Andere harrten im Dom aus, litten Hunger und Durst, bis Tilly vier Tage später persönlich das Eingangsportal öffnete. Der evangelische Domprediger Reinhard Bake fiel vor dem Generalissimo auf die Knie und trug in lateinischer Sprache einen abgewandelten Vers Vergils über die Zerstörung Trojas vor: »Das ist der Tag des Verderbs und das unabwendbare Schicksal Magdeburgs! Troier waren wir, Ilion war und der Elbestadt strahlender Ruhm!« Tilly lies sich ausnahmsweise erweichen und schonte die Überlebenden. Das Feuer beschädigte zwar den Kreuzgang des Doms, das Mauerwerk blieb aber ansonsten unversehrt. Alle anderen Kirchen brannten aus, und bei den meisten wurden auch die Archive Opfer der Flammen und der Zerstörung.
Bei der Magdeburger Hochzeit starben rund zwanzigtausend Menschen. Es war das größte und schlimmste Massaker während des gesamten Dreißigjährigen Krieges. Die letzten moralischen Grenzen wurden hierbei überschritten. Überlebende berichteten später, die Taten und der Schrecken seien in ihrer Entsetzlichkeit ›nicht in Worte zu fassen und nicht mit Tränen zu beweinen.‹
Seuchen folgten der Katastrophe auf dem Fuße und forderten weitere Todesopfer. Der große Rest der wenigen Überlebenden verließ die Stadt und suchte woanders sein Glück. Nur ein einziges Haus in der Altstadt, das in Domnähe gelegene Fachwerkhaus der Domherrenkurie, überstand das Inferno gänzlich unbeschadet.
Eine der bedeutendsten Städte Deutschlands war für zwei Jahrhunderte praktisch nicht mehr vorhanden.
Reue zeigten die Sieger keine. Viele Katholiken jubilierten und sangen Spottlieder.
Pappenheim schrieb: ›… es seien über zwanzigtausend Seelen darüber gegangen, und es ist gewiss seit der Zerstörung Jerusalems kein gräulicher Werk und Strafe Gottes gesehen worden. Alle unsere Soldaten sind reich worden‹.
Tilly erwiderte bereits während der Plünderungen auf das Flehen einiger seiner Offiziere, das Massaker zu stoppen: ›Der Soldat muss etwas haben für seine Gefahr und Mühsal.‹
Und Papst Urban VIII., Papst aus dem Geschlecht der Barberini, zeigte eindrucksvoll, dass er nicht nur in Rom destruktiv wirken konnte. Denn bis heute geht in Rom das Sprichwort um: ›Was die Barbaren nicht schafften, schafften die Barberini.‹ Er äußerte noch einen Monat nach dem ganz und gar unchristlichen Massaker in einem Schreiben seine Freude über die ›Vernichtung des Ketzernestes‹.
Während über zweihundert Flugschriften, zwanzig Tageszeitungen und einundvierzig illustrierte Flugblätter die grauenhaften Nachrichten von der Magdeburger Hochzeit in Windeseile durch ganz Europa trugen und aus dem Magdeburger Gemetzel die erste echte Mediensensation der europäischen Geschichte machten, war die deutsche Sprache um ein Wort reicher: Wenn seither ein Synonym für die größtmögliche Gewalt oder für das totale Grauen des Krieges gesucht wurde, sprach man von ›magdeburgisieren‹.
Es mag ein schwacher Trost für das schockierte Lager der Reformation gewesen sein: Die Sieger konnten ihren Triumph nicht dauerhaft umsetzen. Zögerlich belauerten Tilly, von Pappenheim und der schwedische König Gustav Adolf einander so lange, bis die Eroberung Magdeburgs strategisch ohne Wert war. Krieg ist meist sinnlos, aber die Opfer von Magdeburg starben einen besonders sinnlosen Tod.
5.
Vier endlose Tage lang harrte Magdalena im Lager des katholischen Heeres aus. Dann war sie überzeugt, dass ihrem Johannes etwas zugestoßen war. Überrascht war sie nicht, schließlich glaubte sie nicht an Johannes’ ›Gefrorenheit‹ wie die Soldaten. Sie glaubte an Gott, nicht jedoch an die Unverwundbarkeit mittels Amuletten. Sie befragte ins Lager zurückkehrende Soldaten, die im Siegestaumel aber keine Antworten lieferten. Schließlich fand sie seinen Regimentskommandeur, der ihr bestätigte, was sie längst ahnte: Johannes war tot. Aus dem Hinterhalt erschossen.
Voller Trauer packte sie ihre wenigen Habseligkeiten. Hier war nun kein Platz mehr für sie. Als Hure verdingen wollte sie sich nicht, obwohl die Soldatenwitwen meist keinen anderen Ausweg sahen, um zu überleben. Grußlos und unauffällig verließ sie das Lager. Johannes hatte keine Freunde gehabt, beim Saufen und Würfelspielen würde er sofort von anderen Männern ersetzt werden. Niemand würde ihn vermissen. Und sie genauso wenig …
Johannes hatte ihr ein gutes Messer geschenkt. ›Damit du dich deiner Haut erwehren kannst, wenn ich nicht bei dir bin‹, hatte er lachend gesagt. Nun war er nicht mehr bei ihr, und sie würde den Dolch dringend benötigen.
Sie stolperte durch den Wald, der Magdeburg umgab. Der Gestank der qualmenden Trümmer und der beginnenden Verwesung wehte ihr bis hierher um die Nase. Sie stieg einen Hügel hinauf und blickte zum Himmel. Es würde gleich beginnen zu regnen. Warum nicht ein paar Tage früher, dann wären die Brände eher gelöscht worden? Die ersten Regentropfen prasselten auf das Laub. Sie suchte Schutz in einer dichten Baumgruppe. Kein Soldat war weit und breit zu sehen. Alle versoffen, verspielten und verhurten jetzt das Geld, das sie von den Händlern und Marketendern für ihre Beutestücke erhalten hatten. Die rieben sich derweil die Hände; Magdalena wusste genau, dass kein Soldat jemals den Wert einer Preziose richtig einzuschätzen wusste. Deswegen hatte meist sie die Verhandlungen für Johannes’ Beute übernommen. So war sie in Gedanken versunken und wartete darauf, dass der Regen aufhörte. Hunger quälte sie.
Zu spät hörte sie das Geräusch der näher kommenden Schritte. Ein Mann tauchte auf. Zum Glück war er nicht wie ein Soldat gekleidet. Zur Flucht wäre es sowieso zu spät gewesen. Der Mann zog einen Karren, neben dem ein Junge herlief.
Hatte sie die beiden nicht schon einmal gesehen?
Der Mann hielt, blickte sie an. Überdeutlich war das Erstaunen über ihr erneutes Zusammentreffen in beiden Gesichtern zu erkennen. »Danke!« Das war alles, was er herausbrachte. Der Junge sah sie an und forderte sie mit einer kurzen Geste dazu auf mitzukommen.
Die folgenden Tage und Wochen zogen sie gemeinsam durchs Land. Knoll hatte ebenso nach einigen Tagen des Wartens die traurige Gewissheit erlangt, dass der Rest seiner Familie mit Sicherheit ermordet worden war. Eine Rückkehr in die Stadt war zu riskant. Und selbst wenn nicht, was sollte er in einer Stadt, die zerstört war und die sich in der Hand des katholischen Heeres befand? Er wollte nur noch fort. Obwohl er lange mit sich haderte, seiner toten Frau und seinen Töchtern keine Beerdigung zuteil werden lassen zu können.
Auch Magdalena erzählte ihre Geschichte.
Das Erstaunliche geschah: So gegensätzlich sie waren, dort der Bürger, hier die Frau aus dem Lager der Plünderer und Landsknechte, hier der stolze Protestant, dort die gläubige Katholikin; der Verlust, den jeder erlitten hatte, schweißte sie zusammen. Knoll spürte, dass Magdalena kein schlechter Mensch war, dass lediglich ein schweres Schicksal sie ins Soldatenlager geführt hatte. Magdalena hatte bereits bei ihrem ersten Treffen, im Brauhaus während der Plünderung, Gefühle für diese Menschen verspürt, die sie vorher nie gehabt hatte. Eigentlich waren sie nun wie eine Familie. Nur heimatlos, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollten. Doch Magdalena war zuversichtlich, hoffte auf bessere Zeiten. Darauf, dass die Welt wieder menschlicher werden würde. Friedlicher. Ruhiger.
Cord Heinrich Knoll war erfüllt von grenzenlosem Hass. Auf den Kaiser in Wien, auf Tilly, auf Pappenheim, denen er insgeheim die grässlichsten Flüche nachsandte.
Hass auf die, die ihm alles genommen hatten, bis auf seine beiden Söhne.
Niemals sprachen sie über Magdeburg. Beide, Cord wie Magdalena, vergruben die Erinnerungen an die grauenhaften Ereignisse tief in ihrem Herzen.
So kühl es bis zum Frühjahr gewesen war, so schnell und warm kam der Sommer. Für Reisende ohne Unterkunft war dies ein wahrer Segen. Hörten sie von Weitem Trommeln, Trompeten oder irgendeinen anderen Hinweis auf sich nähernde Soldaten, schlugen sie schnell seitliche Wege ein. Sie wollten jeglicher Soldateska aus dem Wege gehen.
Der Krieg war durch das Eingreifen der Schweden und den Fall Magdeburgs in eine neue Phase getreten. Nun waren in erster Linie Mittel-