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um den Menschen, den sie mehr liebte als ihr Leben. Dass er eine andere Frau geheiratet und sie vergessen haben könnte, konnte, wollte sie sich nicht vorstellen. Die Alternative aber war noch schlimmer: Sophie glaubte inzwischen fest, dass Pierre gefallen war und Raphael keinen Vater mehr hatte, Halbwaise war. Dennoch: Jetzt, wo die Franzosen im Ruhrgebiet einmarschierten, wuchs die Hoffnung, dass er vielleicht doch noch am Leben sein könnte. Sie wagte den Gedanken eigentlich gar nicht zu denken, verbot ihn sich, doch er ließ sich nicht beiseiteschieben. Und noch etwas quälte sie: der Franzosenhass. Auch Raphael hatte das eine oder andere Mal schon einen franzosenfeindlichen Satz fallen lassen, und Sophie hatte an sich halten müssen, um ihren ahnungslosen Sohn nicht anzuschreien. So hatte sie die Kommentare ignoriert, denn auch wenn sie ihn nur sanft zurechtgewiesen hätte und Raphael hätte in der Schule erwähnt, dass seine Mutter franzosenfeindliche Kommentare nicht dulde, wäre das gefährlich gewesen. Franzosenhass gehörte zum guten Ton in diesen Tagen, vor allem, seit die Feinde aus dem Westen das Ruhrgebiet besetzt hatten, um die Deutschen zur Einhaltung der Reparationszahlungen zu zwingen.

      »Irgendwann wirst du es Raphael sagen müssen«, unterbrach Johanna ihre Gedanken.

      »Das kann ich nicht«, wehrte Sophie erschrocken ab. »Wie sollte er damit klarkommen? Jetzt, wo alle Welt die Franzosen hasst?«

      »Das wird sich auch wieder ändern«, versuchte Johanna zu beruhigen.

      Sophie schloss ihre Hand fest um das winzige silberne Notizbüchlein, in dem ein Foto Pierres steckte, dem sie ihre intimsten Gedanken anvertraute und das sie an einem hellblauen Seidenband stets um den Hals trug. »Glaubst du wirklich?«

      »Aber natürlich. Denk doch nur daran, wie oft die Welt sich allein in den letzten zehn Jahren verändert hat.«

      »Da hast du natürlich recht.« Ein Hauch von Hoffnung glomm in Sophies Augen. Doch sie ahnte nicht, wie ex­trem ihr Leben und auch das von Raphael, wie extrem ihrer aller Leben sich noch verändern würde. Sie hatten schon so viel hinter sich. Und noch so viel vor sich.

      4. Kapitel

      Essen, Ruhrgebiet, 12. Januar 1923

      »Ich werde dort nicht hingehen.« Siegfried ließ wieder etwas von seiner alten Kraft und seinem alten Feuer erkennen, als er in der kleinen, düsteren Wohnung, die er mit Luise bewohnte, auf den Tisch hieb und ihr seine Entscheidung mitteilte. »Ich werde dort genauso wenig erscheinen wie unsere Direktoren!« Leicht hob er das Kinn, und Luise sah plötzlich wieder den Mann vor sich, in den sie sich einst verliebt hatte. Sie fühlte, dass ihr Herz unwillkürlich schneller schlug, als sie die Woge seiner Entrüstung einatmete. Als sie wieder sein Feuer spürte und sein Leuchten. Schüchtern und doch kraftvoll wie ein Schneeglöckchen durch hartgefrorenen Boden bohrte sich die Hoffnung durch den Winter ihres Gemüts. Es war der 12. Januar 1923, ein ausnehmend kalter Tag. Die französischen Behörden hatten die Direktoren der Krupp-, Stinnes- und Thyssenwerke zu einer gemeinsamen Konferenz eingeladen, an der von deutscher Seite allerdings niemand teilnahm. Auch die Arbeiter dachten nicht daran, den Franzosen ihre Mitarbeit zuzusagen oder ihnen gar die Informationen zu geben, auf die sie hofften.

      »Sie wollen, dass wir ihnen Auskunft geben.« Siegfried spie auf den Boden, und Luise, so sehr sie sich über seinen wiedererwachten Kampfgeist freute, zuckte angesichts dieser groben Geste zusammen. Früher war er beides gewesen: mutiger Kämpfer und Kavalier. Jetzt war er ein Kämpfer mit verrohten Gesten, aber wenigstens, dachte Luise, kämpft er wieder und badet nicht mehr nur in Selbstmitleid.

      Siegfried hielt Wort. Und er hielt Stand und wich keinen Deut von seinem Vorhaben, seiner Haltung und seiner Überzeugung ab. Auch nicht, als er nach der Mittagspause auf dem Weg zur Arbeit die Krupp-Statue auf dem Marktplatz passierte und drei Männer aus dem französischen Panzer sprangen, der dort stationiert war. Groß, drohend und breit kamen sie dem humpelnden Mann entgegen. Einer zog eine Peitsche hervor und hieb damit genau auf den Stumpf. Siegfried erblasste vor Schmerz und Wut, aber er verzog keine Miene.

      »Einem Mitglied der Besatzungsmacht haben Sie Platz zu machen und zu grüßen!«, bellte der französische Offizier. »Haben Sie mich verstanden?«

      Siegfried hob den Blick, starrte dem Mann trotzig in die Augen und spuckte aus, wie er das schon in seiner Küche getan hatte.

      Plötzlich wurde er von hinten gepackt und zu Boden geworfen. Der Offizier trat mit dem Stiefel nach ihm und schlug ihm mit der Peitsche ins Gesicht. Die Stelle brannte, aber noch heißer brannte die Scham, die in Siegfried emporstieg.

      »Der Besatzungsmacht haben Sie sich zu beugen und den Befehlen Folge zu leisten!«, brüllte der Offizier mit zornrotem Gesicht.

      Siegfried antwortete nicht. Auch wenn er vor Angst zitterte und einen neuen Schlag mit der Peitsche fürchtete, blieb sein Stolz doch ungebrochen.

      Der Offizier trat ihm mit aller Gewalt in die Nieren und er krümmte sich vor Schmerz.

      »Sie sind verhaftet!«, bellte der Franzose. »Man wird Ihnen schon noch Manieren beibringen.«

      Er drehte Siegfried den Arm auf den Rücken, zog ihn zu sich herauf und führte ihn ab.

      5. Kapitel

      Deauville, Frankreich, 12. Januar 1923

      Michelle Didier wurde ihrer Mutter, Madame Legrand, immer ähnlicher. Hatte sie früher die strengen Ansichten ihrer Mutter verurteilt und war ein freidenkender und geradliniger Mensch gewesen, so hatten die letzten Jahre sie verbittern lassen und sie zu einer ewig nörgelnden und unzufriedenen Person gemacht.

      Schuld daran war sicher das Bewusstsein, dass ihr Mann Pierre sie nicht liebte und sie nur aus Mitleid geheiratet hatte. Dass er in jeder Minute, die er mit ihr zusammen verbrachte, eigentlich an diese Deutsche, diese Sophie, dachte.

      Michelle war ein sehr romantisches Mädchen gewesen, das an die große Liebe glaubte, und eine ganze Zeit lang hatte sie Pierre für diese große Liebe gehalten. Aber gab es eine große Liebe ohne Gegenliebe? So hatte Michelle es sich in ihren Träumen jedenfalls nicht vorgestellt! Als Pierre ihr kurz vor seinem Heiratsantrag gestanden hatte, dass er eigentlich eine andere Frau liebe und dass er sie nur heirate, weil ihre Mutter die Verlobung schon öffentlich verkündet hatte und er ihr die Schande ersparen wolle, war sie tief verletzt gewesen und hatte den Antrag stolz abgelehnt. Sie wollte, dass er sie aus Liebe und nicht aus Mitleid heiratete.

      Schließlich aber hatte sie festgestellt, dass sie ohne ihn nicht leben konnte, und sich entschlossen, den Antrag anzunehmen. Sie würde ihm eine gute Frau sein und ihn, dessen war sie sich sicher, im Lauf der Zeit dazu bringen, diese Deutsche zu vergessen und sie, Michelle, von ganzem Herzen zu lieben.

      Doch Pierre vergaß Sophie nicht. Zwar sprach er nie von ihr, denn er wusste, was sich gehörte, aber Michelle spürte, dass Sophie zwischen ihr und Pierre stand und dass das vermutlich auch immer so sein würde. Sie versuchte, seine Liebe zu gewinnen, opferte sich regelrecht für ihn auf. Doch je mehr sie sich selbst aufgab, desto mehr zog er sich von ihr zurück. Und Michelle dachte verzweifelt, wie leicht es diese Sophie doch hatte. Eine Liebe, die nie über den Zustand der ersten aufregenden Phase hinauskam, ließ sich leicht glorifizieren, schließlich hatten die beiden keinen Alltag miteinander geteilt, sich nie aneinander gewöhnt. Kein Wunder, dass ihm Sophie da nur in den leuchtendsten Farben in Erinnerung geblieben war. Sie, Michelle, hingegen teilte sein Leben. Sie bemühte sich zwar immer, schön und gepflegt zu sein, aber er hatte sie nun auch mal verschwitzt gesehen, nachdem sie ihm die Kinder geboren hatte. Er sah sie hustend und krank während einer Grippe, er wusste, wie sie morgens nach dem Aufwachen aussah. Sie kam nicht auf die Idee, dass solche Momente Liebe stärken konnten. Und dass es Momente waren, die die gegenseitige Zuneigung vertieften, selbst wenn es sich nicht um die große Liebe handelte. Michelle dachte, sie müsse immer schön und gut gelaunt sein, um mit Sophie konkurrieren zu können, und sie begann, sich eine Maske zuzulegen, die das Einzige verdeckte, was Pierre an ihr gemocht hatte: ihre Natürlichkeit. Sie achtete darauf, vor ihm aufzustehen, um ihm geschminkt entgegenzutreten, und ihr Umgang miteinander wurde beherrscht von ihrem oberflächlichen, scheinbar gut gelaunten Geplauder. Was Pierre, den menschliche Tiefe anzog wie nichts anderes, immer weiter von ihr forttrieb.