Sibylle Narberhaus

Syltleuchten


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einen Plan B und zwar einen verdammt guten. Doch er hatte bereits eine Idee. Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte plötzlich und riss ihn aus seinen Überlegungen. Ungeachtet ließ er es klingeln.

      Nach dem sechsten Klingeln griff er schließlich doch zum Hörer und sagte nur genervt: »Nicht jetzt!«

      Und legte wieder auf. Dann stand er langsam auf, atmete tief durch und ging ins Behandlungszimmer. Auf dem Weg dorthin rief er seiner Sprechstundenhilfe zu: »Sagen Sie für heute und die nächsten zwei Wochen alle Termine ab und nehmen Urlaub. Das gilt für alle hier! Die Praxis ist ab sofort geschlossen.«

      Die Sprechstundenhilfe hinter dem Tresen traute ihren Ohren kaum und sah ihren Chef ungläubig aus weit aufgerissenen Augen an.

      »Alle?«, fragte sie zaghaft. Dann deutete sie auf Marcus’ Hand. Das Pflaster hatte sich dunkelrot verfärbt. »Oh mein Gott, Sie bluten ja, Doktor Strecker!«

      »Ja, alle!« Marcus sah kurz zu seiner Hand. »Nun gucken Sie nicht so blöd, sondern machen Sie, was ich Ihnen gesagt habe! Ich wiederhole mich äußerst ungern. Das sollten selbst Sie mit Ihrem Spatzenhirn mittlerweile verstanden haben. Worauf warten Sie also?«

      Der Sprechstundenhilfe fehlten die Worte. Sie schnappte nach Luft und sah ihm fassungslos hinterher, wie er an ihr vorbeistürmte und in einem der Sprechzimmer verschwand.

      Kapitel 6

      Nachdem ich ebenfalls das ›Café Wien‹ verlassen hatte, machte ich einen kleinen Abstecher zum Strand. Plötzlich verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, ans Meer zu gehen, um den Kopf frei zu bekommen. Das tat ich immer, wenn meine Seele Freiraum brauchte. Und das war jetzt dringend der Fall. Die Vorstellung, dass Jan Britta mit einer anderen Frau betrog, verursachte mir ein beklemmendes Gefühl. Fast so, als wäre ich selbst betroffen. Ich konnte nur zu gut nachvollziehen, wie Britta sich fühlen musste. Nachdenklich ging ich die Strandstraße weiter in Richtung Meer. Überall in den Auslagen der Geschäfte wurde man an das nahende Osterfest erinnert. Bunte Eier, Hühner und Hasenfiguren in den unterschiedlichsten Größen, Farben und Ausführungen zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Ich ging hinter dem Freizeitbad, der ›Sylter Welle‹, rechts die Strandpromenade ein Stück entlang, nachdem ich das Kontrollhäuschen für die Gästekarten passiert hatte. Der nette Mann darin kannte mich mittlerweile schon, begrüßte mich und winkte mich freundlich durch, ohne dass ich meinen Ausweis zeigen musste. Viele Spaziergänger waren unterwegs, sowohl auf der Seepromenade als auch unten am Strand. Die blau-weiß gestreiften Strandkörbe warteten zu Hunderten darauf, von den Urlaubern in Beschlag genommen zu werden. Sobald sie den Strand zierten, war dies ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Saison eingeläutet war. Eine große Silbermöwe thronte majestätisch auf einem der Körbe, als würde sie sich einen Überblick über ihr Reich verschaffen wollen. Der Himmel war mittlerweile ganz aufgerissen, und nur wenige weiße Wolkenfetzen wurden vom Wind über den Himmel getrieben. Das Wasser leuchtete in einem Farbspektrum von Dunkelgrün über Türkis bis hin zu Blau. Einige Surfer glitten elegant auf ihren Brettern durch das Wasser, um die perfekte Welle zu erwischen. Ihre schwarzen Neoprenanzüge glänzten in der Sonne. Ich lief die Promenade entlang, bis der asphaltierte Weg zu Ende war. Der Wind spielte in meinen Haaren und riss einzelne Strähnen aus meinem Pferdeschwanz. Pepper musste überall eifrig schnuppern. Nach einer Weile drehte ich um und trat den Rückweg unten an der Wasserkante an. Die Wellen krachten auf den Strand, die schäumende Gischt versprühte einen feinen Wassernebel, den ich auf meinem Gesicht spürte. Ich atmete tief ein, und meine Lippen schmeckten salzig. Pepper, der ohne Leine lief, wagte sich immer wieder ein Stückchen weiter ins Wasser und freute sich seines Lebens. Es war die reinste Freude, ihm zuzusehen. Sein schwarzes Fell war ganz nass und voll von Sand. Er hatte eine Braunalge gefunden, biss hinein und schlug sie sich begeistert um die Ohren. Dann weckte ein angespülter Holzstock sein Interesse, und die Braunalge geriet schnell in Vergessenheit. Auf der Höhe der Musikmuschel leinte ich Pepper an, und wir verließen den Strand über eine der kleinen Holztreppen, die es an jedem Strandabschnitt gab. Die Übergänge waren jeweils mit einem anderen Tiersymbol gekennzeichnet, beispielsweise einem Frosch. So konnten sich auch kleine Kinder gut merken, wohin sie mussten, wenn sie den Strand einmal verlassen sollten. Ich klopfte den Sand von meinen Schuhen und lief über die gut besuchte Friedrichsstraße zurück zu meinem Wagen, den ich in der Nähe in einer Seitenstraße geparkt hatte. Auf dem Heimweg machte ich schnell einen Abstecher zum Supermarkt, um etwas Essbares einzukaufen, da wir kaum frisches Obst und Gemüse zu Hause hatten.

      Als ich gerade in unsere Einfahrt einbog, sah ich Ava aus unserer Gartenpforte kommen. Ava Carstensen lebte mit ihrem Mann Carsten ebenfalls in Morsum, keine fünf Minuten von uns entfernt. Ich hatte sie beide im Zuge meiner Erbschaft kennen und schätzen gelernt. Als der alte Besitzer noch lebte, hatten sie sich um das Haus und den Garten gekümmert. Sie waren beide herzensgute Menschen und lebten ihr gesamtes Leben hier auf der Insel. Sie hatten sie niemals verlassen, was in der heutigen Zeit kaum vorstellbar war. Nick und ich mochten das alte Ehepaar sehr gerne und liebten ihre Geschichten rund um die Insel Sylt und Morsum im Besonderen. Gelegentlich halfen sie uns, indem sie auf Pepper aufpassten, wenn wir verhindert waren, oder halfen bei kleineren Reparaturen im Haus. Im Gegenzug unterstützten wir sie, wenn sie Hilfe benötigten, oder nahmen sie mit dem Auto mit in die Stadt, da sie kein eigenes besaßen. Es war ein Geben und Nehmen.

      Ava winkte mir zu, als sie meinen Wagen erkannte, und ich hielt auf dem Parkplatz vor dem Haus. Ich stellte den Motor ab und stieg aus, um sie zu begrüßen.

      »Moin, Ava, schön dich zu sehen! Ich hoffe, es geht euch gut. Was macht Carsten?«

      »Moin, Anna! Danke, wir können nicht klagen. Carsten hat es mit dem Rücken zu tun, aber wir sind halt alte Leute. Da kommt das häufiger vor«, antwortete sie und winkte in ihrer stets bescheidenen Art ab.

      »Ich glaube, Rückenschmerzen sind heutzutage keine Frage des Alters mehr«, erwiderte ich. »Was führt dich zu uns? Kann ich dir behilflich sein?«

      »Nein, ich bin nur kurz vorbeigekommen, um euch einen Kuchen zu bringen, den ich frisch gebacken habe. Er steht vor der Haustür. Ich dachte mir, dass ihr nicht zu Hause seid, weil keines der Autos auf dem Parkplatz stand. Außerdem hat Pepper nicht angeschlagen, als ich geklingelt habe. Carsten hatte mir geraten, ich solle lieber vorher anrufen, aber ein kleiner Spaziergang bei dem schönen Wetter schadet in keinem Fall, und den Kuchen klaut ja niemand hier draußen.«

      Sie lächelte mich freundlich an, und ihre hellwachen Augen blitzten in ihrem faltigen Gesicht.

      »Stimmt. Ich war in Kampen auf einer Baustelle und habe Pepper mitgenommen. Aber herzlichen Dank! Ein Kuchen von dir ist immer eine leckere Angelegenheit. Da freue ich mich jetzt schon drauf. Möchtest du nicht mit ins Haus kommen? Ich mache uns schnell einen Tee.«

      »Nein, danke, das ist sehr lieb von dir, Anna, aber ich muss los. Ich möchte Carsten nicht so lange alleine lassen. Du weißt ja, wenn Männer krank sind!« Sie lachte schelmisch. »Lasst euch den Kuchen schmecken.«

      »Ganz bestimmt. Danke noch mal, Ava! Viele Grüße und gute Besserung an Carsten!«, erwiderte ich zum Abschied.

      »Das werde ich ausrichten und Grüße auch an Nick«, sagte sie und machte sich auf den Weg nach Hause.

      Jetzt befreite ich Pepper aus dem Auto, der uns die ganze Zeit über durch die Heckscheibe beobachtet hatte, und schloss zunächst die Haustür auf. Dann hob ich den Kuchen vorsichtig von den Steinplatten vor der Tür auf, bevor Pepper seine Nase neugierig unter die Alufolie stecken konnte, und trug ihn in die Küche, wo ich ihn auf dem großen Esstisch abstellte. Ich schielte kurz unter die Folie. Der Kuchen sah nicht nur sehr lecker aus, er roch auch äußerst verführerisch. Anschließend entlud ich mein Auto und verstaute die gekauften Lebensmittel in der Küche und dem angrenzenden Vorratsraum. Während ich damit beschäftigt war, musste ich an Britta denken. Vielleicht sah die Welt morgen schon ganz anders aus und Brittas Befürchtungen hatten sich in Luft aufgelöst. Sicherlich war alles nur ein großes Missverständnis, und es gab eine ganz einfache Erklärung für Jans Verhalten. Ich wünschte es ihr.

      Am späten Nachmittag kam Nick nach Hause. In der Zwischenzeit hatte ich erste Ideen zu meinem Gartenprojekt aufgeschrieben und mit den Skizzen begonnen.