Vor ein paar Wochen war er plötzlich wieder da. Er sah hundeelend aus und gab vor, auf der Geschäftsreise schwer krank geworden zu sein.«
»Und? Wo ist er gewesen?«, fragte Rimberti, während Fockena Sanders wieder einen gefüllten Becher zuschob.
»Kein Wort hat er gesagt. Nix«, sagte Sanders, dessen Blick immer glasiger wurde und dessen Gesichtsfarbe immer mehr der des Weines ähnelte. »Und der Knecht war nicht mehr bei ihm. Jakob sagte, sein Knecht sei in die neue Welt gegangen. Er wollte sein Glück im Goldland machen. Mein Bruder hatte Verbindungen zu den Welsern in Augsburg. Der Kaiser hat dieser Familie die Statthalterschaft über ein riesiges Gebiet in der neuen Welt überlassen.« Sanders rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Gegen Bares natürlich. Viele vermuten dort das Goldland. Kein Wunder, dass viele Abenteurer und Taugenichtse dort reich werden wollen.«
Rimberti hoffte, dass Berend Sanders noch so lange klar im Kopf blieb, bis er Antworten geliefert hatte. »Und Euer Bruder hat nie darüber geredet, wo er gewesen ist und was passiert ist?«
»Darüber hat er nich’ mit mir gesprochen«, antwortete Sanders. Er machte ein Schmollgesicht. »Er brauchte ein paar Wochen, um sich zu erholen, und so ganz der Alte war er bis zuletzt nicht.«
»Nun wird ja alles anders«, brummte Ulfert Fockena und prostete Sanders zu.
Sanders lächelte dümmlich. Der schwere Wein stieg ihm zu Kopf.
Was Rimberti wissen wollte, musste er jetzt aus ihm herausholen. Ein paar Weinbecher später würde dazu keine Gelegenheit mehr sein. »Vorhin habt Ihr mit einem Mann gesprochen. Ich meine, dass ich ihn von irgendwoher kenne. Aber ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern.«
»Ich weiß nich’, von wem Ihr redet.« Sanders schüttelte den Kopf.
Aber Rimberti wollte diese Information unbedingt von ihm haben. »Der Schwarzbärtige mit der Narbe im Gesicht. Ihr habt Euch laut mit ihm unterhalten, und er hat mich noch im Vorbeigehen gegrüßt.«
»Keine Ahnung. Er hatte irgendein Geschäft mit mei’m Bruder.« Berend Sanders fing an zu lallen. »Ich hab gar nich’ verstanden, was er wollte. Das sind die Sachen von mein’ Bruder. Da will ich nix mit zu tun haben. Damit is’ jetz’ Schluss. Aus un’ vorbei. Nu’ bin ich der Kaufmann Sanders.«
Kapitel 6
»Ich glaube kaum, dass Euch das etwas angeht. Schlaft erst einmal Euren Rausch aus!«, herrschte Rinelde Sanders Rimberti und Fockena an, die am frühen Morgen nach der durchzechten Nacht reichlich angeschlagen im Kontor standen.
»Tjark Andreesen, begleite die beiden Herren zum Ausgang«, sagte sie beiläufig und verharrte dann einen Moment, weil der Angesprochene nicht auf ihre Anweisung reagierte.
Am Fenster saß ein Junge, der etwa vierzehn Jahre alt sein mochte. Er war von kräftiger Gestalt und hatte blitzende hellblaue Augen. Seine blonden Locken ringelten sich lustig auf dem Kopf und um die Ohren. Tjark hatte Frau Rinelde nicht gehört. Er sah aus dem Fenster. Ein Junge in seinem Alter trieb draußen ein paar Kühe am Haus vorbei.
»Tjark!«, fuhr Rinelde Sanders den Jungen an, der sofort zusammenschrak. »Bist du in Gedanken wieder auf deinem Hof? Am besten wärst du geblieben, wo du herkommst. Nur weil mein Mann deinem Vater einen Gefallen schuldig war, sitzt du hier im Kontor und hast die Möglichkeit, eine Ausbildung zu erhalten, von der deine Brüder nur träumen können. Und du schaust den Kühen hinterher? Eine Schande bist du, Tjark Andreesen. Da, wo andere ihren Verstand im Kopf haben, hast du nichts als eine Fuhre Schweinemist. Ich weiß nicht, warum ich dich nicht sogleich aus dem Haus jage.«
Der Junge lief rot an vor Scham und erhob sich zögernd. Rimberti sah seine ungeschickten Bewegungen, er erkannte aber auch die klugen Augen, die alles sehr genau wahrnahmen, und eine Beherrschtheit, die der Junge schon lange verinnerlicht hatte. Sie half ihm wegzustecken, dass er von der Herrin vor zwei Männern bloßgestellt wurde.
»Ja, gewiss …« Tjark Andreesen nickte und wollte weitersprechen, aber Rinelde Sanders hatte die Tür lautstark geschlossen.
»Wir wollten dich nicht in eine unangenehme Situation bringen.« Ulfert Fockena klopfte dem Jungen auf die Schulter.
»Es ist …« begann Tjark, und Ulfert Fockena setzte den Satz fort.
»Es ist genau, wie die Herrin sagte. Du bist hier nicht glücklich.«
»Ich schäme mich dafür. Mein großer Bruder würde von einem solchen Leben träumen: Papiere, Zahlen, Buchstaben, Bücher, Listen, Briefe. Seht, mit was für einer Krakelschrift ich mich durch die Zeilen quäle. Ich schreibe so, wie mein Bruder pflügt.«
»Aber nicht er sitzt hier, sondern du«, stellte Lübbert Rimberti fest.
Tjark nickte. »Er ist der Ältere, und er übernimmt den Hof. So haben es die Eltern bestimmt. Obwohl Frerk nur ein Jahr älter ist.«
»Bei Esau und Jakob waren es vermutlich nur wenige Augenblicke«, bemerkte Rimberti.
»Ich werde meine Lehre zu Ende machen und lerne so viel, wie ich kann. Und dann muss es weitergehen, wie Gott, der Herr, es will«, schloss Tjark.
»Aber der Wille des himmlischen Vaters ist nicht immer derselbe wie der Wille des irdischen Vaters«, sagte Rimberti.
»Ich bringe Euch zur Tür. Danke für Eure freundlichen Worte«, sagte Tjark niedergeschlagen.
»Moment noch«, erwiderte Ulfert Fockena mit gedämpfter Stimme. »Euer Kaufmann war lange Zeit verreist.«
Tjark blinzelte gewitzt. »Ihr seid die Männer, die im Auftrag des Grafen Erkundigungen einziehen.«
Fockena fiel es schwer, seine Stimme gedämpft zu halten. »Woher weißt du …?«
»Ich bin vielleicht dumm«, antwortete Tjark. »Aber ich bin nicht doof. Ich bekomme mehr mit, als die Sanders’ ahnen. Der Kaufmann war viele Wochen fort. Und seine Frau wusste nicht, wo er war. Obwohl sie immer vorgab, es zu wissen.«
»Und du weißt, wo er war.«
»Niemand wusste das, und der Kaufmann hat nie auch nur ein Wort darüber verlauten lassen. Niemand von uns durfte davon sprechen. Schnitt einer von uns aus Neugierde oder aus Zufall das Thema an, lenkten der Kaufmann und seine Frau das Gespräch gleich auf ein anderes. Oder sie gaben uns deutlich zu verstehen, dass wir nicht zu fragen, sondern nur auf ihre Fragen zu antworten hätten.«
»Könnte jemand etwas wissen?«
»Hilko Boyen. Er hat oft mit dem Kaufmann zusammengearbeitet. Meistens waren das die großen Geschäfte, die für einen allein nicht zu schaffen waren. Ich bin ja noch nicht lange hier, obwohl es mir schon zu lange vorkommt. Wenn einer etwas weiß, dann ist es Hilko Boyen.«
»Hast du einen Verdacht?«, fragte Fockena lauernd.
»Ich habe wirklich keine Ahnung. Aber als der Kaufmann hier war, war er verändert. Er wirkte auf einmal so anders.« Der Junge suchte nach Worten. »Er wirkte, als ob er in den Wochen um Jahre gealtert wäre. Im Kontor war er manchmal fahrig. Mitunter kam er gar nicht ins Kontor, und manchmal ging er tagsüber für längere Zeit fort.«
»Gab es ein besonderes Ereignis vor der Reise deines Kaufmanns?«, wollte Rimberti wissen.
»Nein.« Tjark Andreesen rieb seine sommersprossige Nase. »Es war eigentlich alles so wie sonst auch.« Er sah zu Boden.
»Was überlegst du? Es muss vielleicht gar nichts Außergewöhnliches sein. Gab es eine Angewohnheit deines Herrn, die dir aufgefallen ist, auch wenn sie dir nicht der Rede wert zu sein scheint? Kamen Leute zu ihm? Hat er etwas verändert? Eine Gewohnheit vielleicht?«
»Der Kaufmann hat sich oft mit Freunden getroffen. Nicht hier im Haus, nur zweimal waren sie hier, und da wurde ich weggeschickt.«
»Weißt du, wo diese Treffen stattfanden?«
»Im alten Speicher am Hafen. Und als der im letzten Herbst abgebrannt ist, trafen sie sich in einem anderen Speicher. Dort war auch ein kleines