klingelte. Ding-dong! Es fühlte sich seltsam an, vor der Tür des eigenen Ehemanns zu stehen und zu klingeln. So, als ob da schon eine Barriere wäre, die dem Glück im Wege stand. Wenn er nicht wollte, brauchte er nicht zu öffnen.
Sie gab sich einen Ruck. Immer wieder diese Gedanken. Sie tauchten in letzter Zeit gehäuft auf. Hatte sie vielleicht doch damals zu heftig reagiert? – Nein, wenn sie nachgegeben hätte, wäre das wohl das Aus ihrer Ehe gewesen. So konnten sie sich neu finden. Doch nun war da die Sache mit Josie …
Die Tür öffnete sich. Hendrik schien gut gelaunt.
»Hallo, mein Liebling! Schön, dich zu sehen.«
Barbara ging auf seinen schmeichelnden Tonfall nicht ein.
»Hallo Hendrik!«
Das kam etwas spröde herüber. Hendrik hakte nach.
»Warum so frostig? Hab ich dir etwas getan?«
»Jetzt nicht, aber denk mal an früher!«
Hendrik führte sie ins Wohnzimmer. Er bot ihr auch hier den Platz auf der Couch an. Barbara setzte sich.
»Hendrik, ich will gleich zur Sache kommen. Ich habe nicht viel Zeit, weil ich mich um vieles kümmern muss.«
»Gut. Wo drückt der Schuh? Deinen Andeutungen nach bei den Kindern. Liege ich richtig?«
Seine Frau musste kurz lächeln. Hendriks Scharfsinn hatte ihr schon immer imponiert.
»Ja, du liegst richtig. Es geht um Daniel.«
»Was ist mit ihm? Hat er in der Schule nachgelassen? Zeugnis verhauen? Oder anderweitig Mist gebaut? Doch nicht etwa …«
Er sprach nicht aus, was ihm in diesen Moment eiskalt den Rücken herunterlief. Eine seiner schlimmsten Befürchtungen war, dass eines seiner Kinder einmal Drogen nehmen würde.
Barbara kannte diese Angst.
»Nein. Keine Drogen, falls du das meinst.«
Hendriks angespannte Haltung lockerte sich wieder.
»Dann kann es doch nicht so schlimm sein«, sagte er.
Barbara nickte mit dem Kopf: »Doch. Schlimmer.«
Jetzt wurde ihr Mann doch unruhig. Er stand von seinem Platz auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Was soll noch schlimmer sein? Hat er geklaut? Oder ist er radikal geworden?«
Hendrik suchte alle möglichen Verfehlungen zusammen.
Barbara stoppte ihn.
»Hör auf zu raten! Es hat keinen Zweck. Setz dich lieber wieder hin! Glaub mir, es ist besser so.«
Er folgte widerwillig ihrem Vorschlag. Wenn er erregt war, brauchte er Bewegung.
»Also?«
Er blickte sie auffordernd an.
»Daniel ist Transgender.«
Hendrik erstarrte. Diese Reaktion war vorauszusehen. Barbara hatte sie vor wenigen Tagen erst selbst erlebt.
»Transgender? Wie … Was … Wie kommt er dazu?«
»Wie er dazu gekommen ist – da bin ich selbst noch am Suchen. Jedenfalls stand er am Freitag, als ich von der Arbeit kam, in einem meiner Kleider in der Wohnung.«
Ihr Mann fühlte den Boden unter seinen Füßen schwanken. Es war gut, sich zu setzen.
»Er denkt also, er wäre … ein … Mädchen?«
Beim letzten Wort schnellte seine Stimme nach oben.
»Hendrik, er denkt nicht, er fühlt sich als Mädchen, welches in einem falschen Körper steckt. Und das hat ihn schon jahrelang gequält.«
Jetzt wurde er hellhörig.
»Wieso jahrelang?«
»Ich habe es geahnt. Und nun meine Bestätigung erhalten. Ich kann dir versichern, es hat auch mich getroffen.«
»Du … hast es gewusst?!«
Barbara schüttelte den Kopf.
»Nicht gewusst, geahnt.«
Hendrik knurrte: »Wo ist da der Unterschied?«
»Wissen ist hundertprozentiges Ahnen.«
Trotzig entgegnet er: »Ich habe jedenfalls nichts Auffälliges bemerkt.«
»Weißt du, Hendrik, für manche Sachen haben Mütter eben eine Antenne.«
»Ach, und die haben wir Väter also nicht?«
»Doch, aber eure Antenne arbeitet manchmal auf Langwelle.«
Barbara lachte.
Hendrik fand das gar nicht komisch. Er wollte gerade etwas erwidern, da nahm ihm Barbara das Wort.
»Das ist doch nicht weiter tragisch. Dafür seid ihr Männer in anderen Bereichen blitzgescheit.«
Hendrik musste lächeln. Da hatte seine Frau wieder elegant die Kurve gekriegt.
»Aber, seit wann …?«, fragte er.
Barbara blickte an Hendrik vorbei, so, als ob sie sich die Vergangenheit vor Augen führte. Dann, nur zwei Sekunden später, sah sie ihn wieder an.
»Wohl schon die letzten vier, fünf Jahre.«
Auf Hendriks Gesicht malte sich Verblüffung.
»Aber wie …?«
Barbara nahm seine Hand in ihre, streichelte darüber und erwiderte mit warmer Stimme: »Auch Kinder haben ein Gefühl für sich und ihre Umwelt. Hast du nie beobachtet, wie er mit Charlie spielte, wenn sie bei uns war. Sie waren wie zwei Freundinnen. Richtige Jungs verhalten sich anders.«
Bei diesen Worten musste Hendrik unwillkürlich an seine Kindheit denken. Sicher, sie hatten sich damals kaum mit Mädchen abgegeben. Bevor Jungen in die Pubertät kommen, leben Mädchen in einer anderen Welt – manchmal auch später noch.
Barbara bemerkte die Abwesenheit ihres Mannes. Dieser träumerische Blick war es, der sie schon immer an ihm fasziniert hatte. Und in solchen Momenten stellte sie sich oft die Frage, warum sich beide getrennt hatten.
»Oder überleg mal, wie er sich für meine Arbeit interessiert hat, als er Sandy mitbrachte«, holte sie ihn aus seinen Gedanken zurück. »Mehr als dir lieb war. Denn für deine Automodelle hatte er gar nichts übrig.«
Wieder lachte sie.
»Erinnerst du dich, wie er einmal sagte: ›Wenn ich groß bin, dann kauf ich mir ein Auto. Bauen ist öde!‹ – Du warst danach ziemlich vergnatzt.«
Barbara stockte. Der Satz schien Hendrik auch jetzt noch weh zu tun. Das ging gegen sein Hobby, seine Leidenschaft.
Sie nahm seine Hand, die sie immer noch hielt, und drückte sie an ihre Wange.
»He, lass dich nicht so runterziehen! Kinder sagen nun mal, was sie denken. Ihre Welt ist viel ehrlicher als unsere.«
Hendrik genoss den Augenblick. Es war lange her, dass sich beide so verbunden gefühlt hatten. Und dieses Gefühl heilte seinen gekränkten Stolz.
»Ja, ist klar … Es war nur so eine Anwandlung.«
Er streichelte mit dem Handrücken über ihre Wange. Wenn er an die Jahre mit seiner Frau dachte, fühlte er sich wohl.
»Hendrik!«
Barbara holte ihn in die Realität zurück.
»Du solltest seine Entscheidung akzeptieren, so wie ich sie akzeptiert habe.«
Langsam erkannte er die Tragweite des Ganzen. Er zog seine Hand weg, sein Blick wurde wieder abwehrend. Hendrik vergewisserte sich.
»Also du kommst damit klar?«
Barbara