Wenn es in die Tagesstätte kommt, besucht es diese und nicht in zwei Jahren die Schule. Wenn ein Kind nachts nicht durchschläft, dann schläft es noch nicht durch! Wenn es wütend ist, dann ist es nicht aggressiv, sondern es handelt so. Und auf die selbst gestellte Frage »Wo soll das alles nur enden?« lässt sich mit Udo Lindenberg antworten: »Hinterm Horizont geht‘s weiter«, oder wie es im Kölschen Grundgesetz verankert ist: »Et hätt noch immer jot jejange! « Untergangsszenarien lassen Erziehung und damit Erziehende so freudlos werden. Dabei wollen Kinder lachende, fröhliche Eltern! Freude vermissen Kinder an Erwachsenen, dabei ist es für sie so zentral, weil dieses Gefühl ihren Alltag erträglich macht.
Kinder möchten Eltern aus Fleisch und Blut, mit einer authentischen Haltung, die auch erlaubt: »Ich weiß nicht weiter!« Dann erfährt ein Kind: Jetzt geht es denen wie mir! Sie sind Menschen und keine Maschinen. Kinder fordern von ihren Erwachsenen: Kehrt auf das menschliche Maß zurück!
Die kindliche Entwicklung begleiten
Es gibt einen anderen Gesichtspunkt, der häufig außen vor bleibt, wenn Eltern oder auch andere pädagogisch Handelnde das Verhalten ihrer Kinder deuten sollen. Das sind bestimmte Entwicklungsphasen im Heranwachsen. Zwar sprechen Väter und Mütter schnell vom Trotzalter oder der Pubertät, aber dieser Deutungsrahmen bleibt abstrakt oder wird nur zur vordergründigen Beschreibung genutzt: »Ist eben so im Trotzalter!« Was aber diese Phase mit ihren Zornesausbrüchen und überbordenden Schreiereien bedeutet, wird häufig verkannt – und in vielen Ratgebern meist nicht erwähnt. Der Trotz ist das lebendige Bild der UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG des Kindes und kein Machtkampf mit den Eltern. Es fehlt Eltern, aber auch Profis, eine inhaltliche positive Bestimmung des Trotzes, die sich im Übrigen auch nicht einstellt, wenn man meint, auf diesen Begriff ganz zu verzichten. Wenn Mütter und Väter die Bedeutung des Trotzes (eben: Unabhängigkeit des Kindes) verstanden haben, dann können sie die heftigen Gefühle dieser Entwicklungsphase akzeptieren lernen.
Das heißt nicht, alles, was ein trotzendes Kind an den Tag legt, vorbehaltlos zu tolerieren. Man kann aber auf der Grundlage des Verständnisses angemessen handeln. Und das bedeutet, die Bedürfnisse aller Beteiligten zu achten und zu respektieren. Respekt für das Kind meint, sich seiner Erziehungsverantwortung als Erwachsener bewusst zu sein. Und damit seines Wissens, seiner Kompetenzen. Kinder müssen sich darauf verlassen können.
ICH BIN BEI DIR, EGAL, WO DEIN WEG DICH HINFÜHRT
Mehr Wissen bringt nur dann Probleme mit sich, wenn es als Besserwisserei missverstanden wird: »Ich möchte dir schlimme Erfahrungen ersparen!« Denn Erfahrungen bestehen meist aus Umwegen im Leben und Umwege erweitern die Ortskenntnis. Ein Umweg bedeutet: Entwicklung stellt keine stete Aufwärtsentwicklung dar. Entwicklung ist immer ein Gemenge aus Fortschritt, Stillstand und Rückschritt. Manchmal merkt ein Kind das, nimmt es wörtlich. So will vielleicht ein Kind, das schon seine ersten Schritte in die Welt gemacht hat und auf beiden Beinen stehen kann, mit einem Mal wieder getragen werden, weil es weniger anstrengend ist.
Ein anderes Kind bleibt für einige Zeit in der Entwicklung stehen, blickt zurück und stellt fest: Früher hatte ich es einfacher, da hat man mich gefüttert, wurde mir jeder Wunsch von den Lippen abgelesen. Nun bin ich groß, muss alleine essen und muss das zu mir nehmen, was mir vorgesetzt wird! Gemein! Da bin ich doch lieber wieder klein!
DAS VORWÄRTS-RÜCKWÄRTS-PRINZIP
In jeder Entwicklung ist häufig ein solcher Widerspruch enthalten. Das zu verstehen ist wichtig, um sich auf die Gefühlswelten von Kindern einzulassen. Gefühle – wir werden es im Lauf dieses Buches noch erläutern – sind auch ein Zeichen von wachsender Reife und damit Anlass für ein Kind, immer wieder Unerwartetes oder auch etwas Ungewohntes, Anderes auszuprobieren.
Es fällt Eltern nicht selten schwer zu akzeptieren, dass in jedem Entwicklungsschritt automatisch ein Widerspruch enthalten ist. Kinder sind neugierig, forschend, schauen hinter die Dinge. Das macht das Leben mit ihnen so spannend und manchmal eben nervend, zum An-die-Decke-Gehen. Sie zeigen uns das über ihr Handeln, über ihre Gefühle – von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt, von Wutausbrüchen bis zur liebevollen Anhänglichkeit. Die Aufgabe von Erwachsenen besteht nun darin, diese Botschaften genau zu verstehen und sie entsprechend zu ENTSCHLÜSSELN.
»Warum«-Fragen helfen da nicht weiter (Warum macht mein Kind das nur?), sondern eine Frage, die man sich selbst stellen und beantworten muss: »Wieso macht mein Kind das? Was will es mir zeigen? Was hat es davon?« Und wie man auf diese Fragen verlässliche Antworten findet, davon handeln die nächsten Kapitel.
GEFÜHLE SIND LEBENSBEGLEITER
Von der Freude, von Ängsten, vom Trotz und vom Zorn
KINDER IN BIBLISCHEN GESCHICHTEN
In den Evangelien des Neuen Testaments begegnet Jesus Kindern, auf die er sich einlässt und sie segnet. Erwachsene können dabei vom Kind lernen, wer sie sind. Und es gibt Heilungsgeschichten. In ihnen geht es vor allem um Gefühle, die Söhne und Töchter ihrem Vater und ihrer Mutter gegenüber haben. Jesus tritt hier wie der erste Familientherapeut auf: Er löst Verwicklungen auf, verteilt dabei aber keine Schuldgefühle. Es geht ihm um die Verwandlung von Eltern und Kindern, um Beziehungen, die es einem Kind ermöglichen, aufzublühen und gut zu leben.
Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder
Die Jünger streiten sich darum, wer der Größte im Himmelreich sei. Es geht ihnen um Anerkennung vor Gott und vor den Menschen. Damit zeigen sie, dass sie nichts verstanden haben von der Botschaft Jesu. Jesus stellt deshalb ein Kind in ihre Mitte und sagt: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.« (Mt 18,4)
Das heißt nicht, dass wir infantil werden sollen. Als Erwachsene sollen wir vielmehr HINEINSPÜREN in das Wesen eines Kindes. Das Kind ist spontan, es drückt seine Gefühle aus. Es ist aber auch offen für alles, was um es herum geschieht. Es sieht alles mit neuen Augen an. Diese Offenheit und Neugier braucht es offensichtlich, um offen zu sein für das Geheimnis Gottes. Viele Erwachsene haben sich eingerichtet in ihrem Leben. Sie kennen sich aus. Aber sie haben sich auch dem Neuen und Unerwarteten gegenüber verschlossen. Das Kind vertraut dem Vater. So sollte auch der erwachsene Christ sein. Er sollte sich wie ein Kind verwiesen fühlen auf den Vater im Himmel, sich an den Vater anlehnen, zum Vater aufschauen. Das Kind erwartet etwas vom Vater und von der Mutter. Es erwartet LIEBE und Halt, Geborgenheit und Si cherheit. Diese Erfahrungen des Kindes sollten wir – so meint Jesus – auch als Erwachsene ernst nehmen und uns als Menschen verstehen, die sich nach Liebe und Geborgenheit sehnen, die den Mut haben, ihre eigene Bedürftigkeit anzunehmen und auszudrücken.
MIT DEM INNEREN KIND IN KONTAKT KOMMEN
Der Text sagt für mich noch etwas anderes: Wir sollten nicht nur erziehen. Wir sollten erst einmal auf jedes Kind hören, was in ihm steckt. Jedes ist einmalig. Bevor wir erziehen, sollten wir uns dieser Einmaligkeit bewusst werden. Wir sollten dem Kind nicht Erwartungen und Bilder und Vorstellungen überstülpen. Wir sollten uns vielmehr hineinmeditieren in das Geheimnis dieses Kindes. Dann erst können wir Wege finden, um mit ihm angemessen umzugehen. Ein Kind lernt nicht nur von uns. Wir sollen von ihm lernen, wir sollen im Hören auf es wieder in Berührung kommen mit dem inneren Kind in uns. Das Kind erinnert uns daran, dass wir ganz wir selbst werden, frei von den Rollen, die wir spielen, und von Masken, die wir aufgesetzt haben.
Wie die Kinder werden, das bedeutet für mich auch: Ich soll wieder lernen, wie ein Kind zu werden. Das heißt: Fragen stellen, staunen, mich spontan freuen. Wir haben das Kind in uns oft genug versteckt. Es will aber wieder aufleben und uns mit der LEBENDIGKEIT in Berührung bringen, die ein Kind auszeichnet. Es möchte uns neugierig machen auf das Geheimnis