so, auch wenn sie Simon fehlte.
Bevor er die Tür aufschloss, warf Simon noch einen Blick auf den schmalen, steinigen Strand neben seinem Haus, wo sein Motorboot lag, ein flaches Metallboot mit Außenborder, wie es auch die Angler auf dem See benutzten. Die Wellen erreichten schon knapp das Heck, aber das Boot war gut vertäut und die Knoten hielten, wie Simon beruhigt feststellte.
Luisa war bereits ins Haus gegangen, warf ihren Regenmantel ab, streifte ihr feuchtes grünes Tuch ab und schüttelte ihre Haare wie ein Hund. Der Kamin im Wohnraum brannte nicht mehr, und obwohl es draußen für Mitte Dezember eher warm war und Simons Haus mit seinen dicken Steinmauern eigentlich lange die Wärme hielt, war es ausgekühlt. Aber sie waren beide zu müde, um noch Feuer zu machen. Sie tranken noch ein Glas Rotwein, fielen dann ins Bett und schliefen sofort ein, trotz des Lärms von Wind und Wellen und obwohl sie beide sich ihre erste gemeinsame Nacht nach wochenlanger Trennung anders ausgemalt hatten.
Ein knirschendes Geräusch schreckte Simon aus dem Schlaf. Der Wecker zeigte fast halb drei. Schlaftrunken setzte er sich im Bett auf und blickte aus dem Fenster auf den See. Der Sturm hatte nicht nachgelassen, und die Wellen schlugen mit unverminderter Wucht von Norden her gegen sein Haus, aber das Gewitter und der Regen hatten sich verzogen. Die Nacht war jetzt sternenklar, und der Mond warf einen langen, hell schimmernden Streifen auf das tiefschwarze Wasser. Wieder knirschte es.
Simon erkannte sofort, was los war. Die Leinen, die sein Boot am Ufer hielten, mussten sich doch gelockert haben, und es rutschte und schabte nun auf den Kieseln hin und her. Es waren nicht die klatschenden Wellen, die ihn geweckt hatten, sondern dieses Geräusch, für das er inzwischen ein gutes Ohr hatte. Wohl oder übel musste er noch einmal in die Nacht hinaus und nach dem Boot sehen.
Luisa schlief fest, das Gesicht in ihr Kopfkissen geschmiegt, atmete leise. Simon beneidete sie um ihren tiefen Schlaf, aus dem sie durch nichts aufzuschrecken war. Diese Zeiten waren bei ihm vorbei. Sogar wenn er erst sehr spät ins Bett ging, wachte er schon am frühen Morgen wieder auf. Das war einer der Tribute, die er seinem fortgeschrittenen Alter zollen musste. Er war jetzt Mitte fünfzig, fast zwei Jahrzehnte älter als Luisa, und auch wenn er noch gut in Form war und sich wie die meisten seiner Altersgenossen viel jünger fühlte, hatte er Angst vor dem Älterwerden und registrierte peinlich genau jedes Anzeichen dafür. Hin und wieder raste sein Herz und versetzte ihn in Todesangst, doch diese Attacken waren seltener geworden, seit er in Ronco lebte.
Er machte kein Licht im Schlafzimmer und zog sich vorsichtig aus der Bettdecke, um Luisa nicht zu wecken, dann tastete er sich die Treppe hinunter, drückte den Lichtschalter, aber die Deckenlampe unten im Wohnraum blieb dunkel. Der Strom war ausgefallen. Auch die Straßenlaternen an der kleinen Uferpromenade von Ronco waren erloschen; das ganze Dorf lag im Dunkeln, wie so oft, wenn Unwetter von den Alpen her über den See zogen. Meistens dauerte es allerdings nicht lange, bis mit einem Schlag der Strom von selbst wieder zurückkam.
Simon streifte eine Jacke über, schlüpfte in seine Gummistiefel, nahm eine Taschenlampe und lief die paar Meter zum Strand, wo das Boot tatsächlich ein Stück nach unten gerutscht war, mit dem Heck jetzt im Wasser lag und die Wellen über den Außenborder schwappten. Wie er vermutet hatte, war das kürzere der beiden am Bug befestigten Taue gerissen. Er beugte sich hinunter, wollte sich das genauer ansehen, als es hinter ihm einen Schlag tat. In seinem Rücken hatte sich etwas bewegt. Was war das? Er wandte sich abrupt um. War da jemand? Lauerte ihm im Dunkeln jemand auf? Mit der Taschenlampe leuchtete er den Strand ab, und jetzt sah er, was ihn erschreckt hatte. Auf einem der anderen Boote saß ein großer, grauer Kater und starrte ihn aus sehr hellen Augen an. Eine von den halbwilden Dorfkatzen, die sich mit einem Sprung vor ihm in Sicherheit gebracht hatte. Er rief dem Kater etwas zu, der machte einen Buckel und verschwand mit einem weiteren Satz über die hohe Mauer auf das Nachbargrundstück.
Ein wenig irritiert über seine ihm ungewohnte Schreckhaftigkeit – machte ihn Luisas Anwesenheit empfindsamer? –, widmete sich Simon wieder seinem Boot, zog es ein Stück höher, befestigte es mit einer weiteren Leine am Stamm der Palme, deren Blätter jetzt fast gestreckt im Sturm standen, der nur noch aus einer einzigen, andauernden Bö zu bestehen schien.
2
Um Viertel nach sieben klingelte Simons Handy und holte ihn erneut aus dem Tiefschlaf. Diesmal wurde auch Luisa von dem Geräusch wach, richtete sich im Bett auf, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte sich ihm verschlafen zu. »Porca miseria! Wer ruft denn so früh bei dir an? Geh da nicht ran, Simon. Das ist bestimmt irgendein Verrückter. Lass uns weiterschlafen, amore.«
Simon ignorierte den Einwand, er war zu neugierig. Wer konnte das um diese Zeit sein? Es war noch dunkel, und er streckte suchend seine Hand zu seinem Handy auf dem Nachttisch aus, nahm mit müder Stimme den Anruf entgegen. Carla. Maresciallo Carla Moretti. Sofort war Simon hellwach.
»Buongiorno, Simone«, sagte sie, und ihre Stimme klang noch tiefer und rauer als sonst, »entschuldigen Sie die frühe Störung, ich habe Sie wohl geweckt, das tut mir leid. Ich bin am Strand von Lagna, und es scheint, ich könnte mal wieder Ihre Unterstützung gebrauchen.«
Simon verschlug es einen Moment die Sprache. Das war wirklich eine frühmorgendliche Überraschung. Er kannte Carla Moretti seit zwei Jahren, und schon zweimal war er ihr mehr zufällig bei der Aufklärung von Mordfällen nützlich gewesen. Allerdings hatte er sich dabei im Übereifer nicht nur mit Ruhm bekleckert. Umso schneller wich seine Überraschung nun der Freude darüber, dass sie sich wieder bei ihm meldete und ihn um Hilfe bat. »Kein Problem«, sagte er. »Was ist denn los?«
»Hier ist die Leiche einer Frau angespült worden. Wahrscheinlich war sie bei dem Sturm heute Nacht auf dem See unterwegs und ist gekentert. Ihr Boot trieb noch auf dem Wasser. Ein Ruderboot mit einem kleinen Außenborder. Es sieht jedenfalls so aus, als ob es ihres ist.«
»Und was genau ist passiert?«
»Ich weiß es noch nicht, und auch nicht, wer sie ist. Sie hat eine Kopfverletzung und es könnte eine Deutsche sein. Sie trägt ein Amulett mit einer deutschen Gravur, vielleicht können Sie das entziffern und uns dabei helfen, sie zu identifizieren?«
»Ja, natürlich, ich komme. In einer knappen Dreiviertelstunde bin ich bei Ihnen.«
Luisa hatte mitgehört oder zumindest aufgeschnappt, worum es ging, und sie kannte Simon gut genug, um gar nicht erst zu versuchen, ihn von diesem Aufbruch abzuhalten. Sie blieb stumm, vergrub sich wieder in den Kissen, als er im Dunkel des Schlafzimmers in seinen Bademantel schlüpfte. Er strich ihr noch einmal sanft über das Haar und verschwand nach unten in das Badezimmer.
Beim Zähneputzen fiel sein Blick durch das Fenster auf die Palme am Strand, die langsam aus der Morgendämmerung auftauchte, mit ihren langen, schmalen Blättern, die nun reglos am Stamm hingen. Der Sturm hatte sich verzogen, es war vollkommen windstill. Er könnte also das Boot nehmen und wäre damit schneller am Fundort der Leiche, in Lagna im Süden des Sees, als mit dem Auto, überlegte Simon.
Er griff zu einer Bürste, fuhr sich damit durch die Haare und schaute in den Spiegel. Müde sah er aus. Die Strapazen der Nacht, und, wenn er ehrlich mit sich war, des ganzen Lebens, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Zwar war sein rotblondes Haar noch voll und fast nicht ergraut, aber er bekam immer mehr Sommersprossen und rund um die Augen kleine Falten, darunter lagen Schatten, die ihm an diesem Morgen besonders dunkel vorkamen. Vom Aussehen her schlug er nicht nach seiner italienischen Mutter, sondern nach seinem deutschen Vater, der ein attraktiver Mann gewesen war, jedoch mit zunehmendem Alter immer fülliger wurde, weshalb Simon seinen eigenen Leibesumfang stets wachsam im Blick behielt.
Mit sieben dunklen Schlägen und einem hellen holten die Kirchenglocken von Ronco Simon aus seinen Gedanken zurück. Halb acht. Es wurde Zeit, dass er sich auf den Weg machte. Noch einmal sah er in den Spiegel. Den Dreitagebart, der tatsächlich schon ein Fünftagebart war, ließ er stehen, nahm noch eine schnelle heiße Dusche. So könnte er Carla begegnen. Aber auch für einen Cappuccino musste noch Zeit sein. Der Strom war zurück im Dorf, und Simon warf die Espressomaschine an, überlegte, ob er nicht Luisa auch eine Tasse ans Bett bringen sollte, um sie zu versöhnen, ließ es aber doch sein. Bestimmt war sie schon wieder