Schrecken irgendwo auf der Welt haben wir uns gewöhnt, ebenso an die lakonisch-fatalistische Feststellung, dass es in der Regel menschengemachte Kriege oder Katastrophen sind, die dieses Leid verursachen und die nicht nötig wären, wenn nur alle so vernünftig wären, wie wir selbst. Wir sind zu Weltmeistern der Verdrängung unserer eigenen Verantwortung für die globalen Verwerfungen geworden, die diesen humanen Katastrophen oftmals zugrunde liegen. Wir wollen die strukturellen Gründe globaler Ungleichheit nicht erkennen, sondern appellieren lieber moralisch und entlasten unser Gewissen mit kleinen Spenden zur Weihnachtszeit.
Doch die Bilder aus den Epizentren der Pandemie waren anders. Das schreckliche Sterben in Italien, Spanien oder den USA forderte nicht nur unser Mitgefühl, sondern ließ auch in einer ungekannten Unmittelbarkeit die bange Frage aufsteigen, ob auch wir vor einer solchen Entwicklung stehen und ob auch in Deutschland Ärzte auf den Intensivstationen entscheiden müssen, wem sie die lebensrettende maschinelle Unterstützung zukommen lassen können und wem nicht. Die Geschichten ließen uns erkennen, wie wenig wir unser eigenes Überleben in der Hand haben, wenn wir nicht bereits langfristig vorgesorgt und Hilfskapazitäten geschaffen haben.
In solchen Momenten wird Angst zu einem bestimmenden Aspekt der öffentlichen und auch der privaten Meinungsbildung. Die Bilder und Erzählungen aus den am schlimmsten betroffenen Regionen Europas ließen sich nicht einfach beiseitedrängen. Sie waren allgegenwärtig, und sie wurden vor allem in den sozialen Medien noch zugespitzt durch die Mutmaßungen und Spekulationen all jener Hobby-Virologen, die in den Tagen und Wochen zuvor ihren Abschluss im Fernstudium an der weltweiten Google-Universität gemacht hatten und sich nun berufen fühlten, komplexe wissenschaftliche Studien zu lesen und zu interpretieren.
Gerade in Krisen kristallisiert sich der Wunsch nach belastbarem wissenschaftlichem Wissen als eines der zentralen gesellschaftlichen Bedürfnisse heraus. Den Virologen und Epidemiologen wurde besonders in den ersten Monaten der Pandemie zugetraut, das Orientierungswissen zu liefern, das die bleierne Ungewissheit über die Zukunft beseitigen sollte. Mediziner wie Christian Drosten, der Leiter der Virologie an der Berliner Universitätsklinik Charité, avancierten über Nacht zu Medienstars und gefragten Interviewpartnern, weil sie das vermeintlich Unerklärliche in Worte fassen und begreifbar machen konnten.
Allerdings erging es ihnen wie den meisten Wissenschaftlern, die mit ihren fachlichen Positionen ins grelle Licht der Öffentlichkeit geraten. Sie unterschätzten die Eigenlogik medialer Berichterstattung: Vorsichtige Hypothesen verfestigen sich unter ihrem Einfluss zu faktischen Aussagen, methodische Dispute werden zu fundamentalen Wertungsunterschieden, und freies Räsonieren über unterschiedliche Betrachtungsweisen führt zu allgemeiner Verunsicherung. Vor allem aber: Der Glaube an eine wissenschaftlich abgesicherte Eindeutigkeit der Erkenntnis muss enttäuscht werden.
Die Diskussion wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Öffentlichkeit birgt zwei Gefahren: Entweder werden die Aussagen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für bare Münze genommen, obwohl es sich in der Regel zunächst um Hypothesen handelt, die auf schmaler Datenbasis generiert wurden und der breiteren empirischen Überprüfung bedürfen. Oder aber sie werden, angesichts der methodischen Vorsichtshinweise, gleich von vornherein derart relativiert, dass sie als wenig hilfreich beiseitegelegt werden.
Egal welcher Mechanismus greift – der Wunsch nach der einen, Sicherheit verbreitenden, Erkenntnis bleibt unerfüllt. Dabei sind die Widersprüche zwischen den verschiedenen Annahmen der Experten notwendige Zwischenschritte im Prozess der Erkenntnis. Aber sie brechen sich an dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach eindeutigen Antworten in einer Zeit voller Fragen. Für den fachlichen Laien ist diese Unsicherheit wissenschaftlichen Wissens schwer auszuhalten.
Auch wenn es bisweilen den Anschein hatte: Wissenschaftliche Beratung kann gesellschaftlichen Diskurs und politische Willensbildung nicht ersetzen. Eigentlich ist seit den großen Auseinandersetzungen zwischen Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften in den sechziger und siebziger Jahren klar: Es gibt kein aus sich selbst heraus wahres oder richtiges Wissen. Es gibt lediglich noch nicht widerlegte Annahmen oder gemeinschaftlich als wahr unterstellte Überlegungen. Doch augenscheinlich ist auch in der Politik der Wunsch nach einem als wahr zu unterstellendem Wissen immer noch so groß, dass die Selbstbeschränkung auf eine Wahrnehmung der Studien als eine mögliche Interpretation der Wirklichkeit nach wie vor schwerfällt. Und manches Medium will dazu anscheinend gleich gar nicht in der Lage sein, wie die Auseinandersetzung der Bild-Zeitung mit der Vorabversion einer noch nicht abgeschlossenen Studie von Christian Drosten im Mai verdeutlicht hat.
Das mangelnde Verständnis für wissenschaftliches Arbeiten führt dazu, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Widersprüchlichkeit oder Zerstrittenheit unterstellt werden, wo es doch bloß um den üblichen und notwendigen Disput zwischen verschiedenen Ansichten ein und desselben Faches geht. Auch diese im Verlauf der Krise wachsende Ernüchterung über die Prognosefähigkeit der medizinischen Wissenschaft hat zum Gefühl eines weitreichenden Kontrollverlustes beigetragen. Wenn selbst die Ärztinnen und Ärzte, denen man die Gestaltung der Geschicke unserer Gesellschaft in dieser Ausnahmesituation noch zugetraut hatte, zugeben müssen, dass sie auch nur Modelle und Annahmen liefern können, dann mindern sie weder Unsicherheiten noch Zukunftsängste.
Ihr Diskurs führt vielmehr vor Augen, dass sich selbst im Angesicht einer Katastrophe, die alle Differenzierungen unseres Wissens einebnet, die eine Perspektive menschlicher Erkenntnis als Antwort darauf nicht herauskristallisieren wird. Vielmehr braucht es die Vielfalt unseres Wissens und unserer jeweiligen Perspektiven, um dieser fundamentalen Herausforderung Herr zu werden.
Leider ist das Bewusstsein für diese Anstrengung bis heute nicht so weitreichend ausgeprägt, wie es sinnvoll wäre. Nicht wenige haben zum Höhepunkt der Infektionswelle darauf beharrt, dass es aufgrund der Unmittelbarkeit der Krise eine dominante Perspektive geben müsse und dass der Diskurs und das ruhige Abwägen unterschiedlicher Interessen und Positionen der Dynamik der Lage nicht gerecht werden könnten.
Als es unmittelbar und direkt ums eigene Überleben ging, schienen nicht wenige bereit zu sein, auf liebgewonnene und notwendige Freiheiten weitgehend umstandslos zu verzichten und sich dem vermeintlich Alternativlosen zu beugen – und zwar unabhängig davon, ob diese alternativlos richtige Antwort überhaupt formuliert werden konnte. Umgekehrt konnten wir diese Eindimensionalität auch erleben, als es um die Konzepte zur Wiederöffnung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens ging.
Die Aufgeklärtheit unserer Demokratie wird sich daher in Zukunft auch im politischen Umgang mit den Ängsten vor dem Verlust der Kontrolle über das eigene Leben und dem daraus folgenden Streben nach Eindeutigkeit beweisen müssen.
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