liefert Hurrelmann diesbezüglich noch eine weitere Definition:
„Sozialisation bezeichnet (…) den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundlagen, die für den Menschen die ‘innere’ Realität bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ,äußere‘ Realität bilden.“11
Der Prozess der Sozialisation lässt sich zudem auf zwei Ebenen betrachten: Bzgl. der
• jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften und
• der sozialen Prozesse des Zusammenlebens
Sozialisation bezeichnet also das Gesamtgeschehen von Prägung, Erziehung und all jene weiteren sozialen und physischen Umwelteinflüssen, die zur Formung der Persönlichkeit beitragen, sie umfasst die gesamte Lebenszeit. Gleichwohl sind diejenigen Lebenserfahrungen, die in den besonders identitätsprägenden ersten Lebensjahren gemacht wurden, meist doch die Wirkmächtigeren. Das gilt für die Prägung und Erziehung und deren soziale und materielle Lebensumweltbedingungen und -begebenheiten sowie später dann für die einschneidenden Erfahrungen des Erwachsenwerdens, des „coming-off-age“, also der Abnabelung vom Elternhaus und der nachhaltigen Sozialisation durch die Gleichaltrigen („peer-group“). Zudem geht es auch um die nachhaltige Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung durch Pädagogen und andere „Co-Erzieher“ wie Medien, kulturelle, politische oder sportliche Vorbilder und „role-models“ usw. Entsprechend dieser Vielfalt lässt sich in der Sozialisationsforschung zwischen der Primär-, Sekundär- und Tertiärsozialisation unterscheiden:
Primärsozialisation
Hier geht es um die nachhaltig-persönlichkeitsformenden Einflüsse der primären Bezugspersonen des Menschen, also in aller Regel der Eltern, Großeltern und Geschwister, seiner nächsten Verwandten, die Prägungen bedingen und sonstigen Einfluss auf den Erziehungsprozess haben, indem sie nachhaltige Erfahrungen, Werte und Rollenmodelle vermitteln. Primärsozialisation umfasst aber auch all die Prozesse, Lebensumgebungen und Lebensumstände sozialer, kultureller und materieller Art, die einen wirkmächtigen Einfluss auf die Persönlichkeitsstruktur des heranwachsenden Menschen haben. Von besonderer Bedeutung für den späteren Charakter und die Persönlichkeit der Menschen ist dabei die Qualität der Bindungserfahrungen, die das Kleinkind gegenüber seinen wichtigsten Bezugspersonen macht und ihm günstigstenfalls „Ur-Vertrauen“ und „Autonomie“ und damit eine prosoziale Persönlichkeit vermittelt (siehe hierzu noch ausführlich III.4).
Sekundärsozialisation
Bei der Sekundärsozialisation kommt die „peer-group“ ins Spiel, also die Gruppe der Gleichaltrigen, die sukzessive die Bedeutung und den Stellenwert der Eltern und anderer primärer Bezugspersonen ergänzen und nicht selten gar ersetzen. Sie sind in Fragen der Rollenbilder, der sexuellen Ersterfahrungen, der soziokulturellen Orientierung (Zugehörigkeit zu Jugendkulturen und Szenen, Freizeitverhalten, Kleidungsstile, Musikgeschmäcker, usw.) von größter Bedeutung. An dieser Stelle sei vorwegnehmend bereits auf die herausragende Bedeutung der Sozialisationstheorie des „symbolischen Interaktionismus“ verwiesen (vgl. III.2), wonach die „Spiegelung“ der eigenen Person in seinem sozialen Umfeld, somit also die Rückmeldungen, die der Einzelne von seinen Interaktionspartnern erhält und ihm dabei zu verstehen geben, was sie von ihm halten, elementare Bedeutung für die Entwicklung einer eigenen Identität zukommt. Gerade für Kinder und Jugendliche sind Erfahrungen von Lob und Anerkennung, von Akzeptiert-Werden und Gewollt-Sein, sind Empfindungen von Wertigkeit oder aber umgekehrt Erfahrungen von Abgelehnt-Werden, von Überflüssig-Sein und persönlicher Herabwürdigung, von elementarster Bedeutung für die Frage nach der späteren Persönlichkeitsstruktur. Hier finden sich positive Selbstkonzepte voller Selbstvertrauen und Resilienz, von Pro-Aktivität und Pro-Sozialität ebenso begründet wie negative Selbstwirksamkeitspotentiale (Antriebschwäche) und fehlendes Selbstvertrauen. Die negativen Folgen reichen bis hin zu Minderwertigkeitskomplexen und Misanthropie (Menschenfeindlichkeit), die sich in Form des neurotischen Charakters und der autoritären Persönlichkeitsstruktur wiederum in der Ablehnung des Schwachen und Kreativen, des Unangepassten und Uneindeutigen zu äußern vermag (vgl. Kapitel IV). Insbesondere Jugendgruppen und -kulturen spielen durch Formen der Selbstinszenierung mit den Erwartungen der Gesellschaft und bestärken sich so in ihrer Identität („labelling approach“, vgl. III. 2). Auch Erfahrungen in der Ausbildung oder im Job, und die hierbei jeweils bedeutsamen Personen, etwa Lehrer und Vorgesetzte, und die je damit einhergehenden materiellen Begebenheiten, spielen hier mit herein; insbesondere stellen auch Medien und andere kulturelle wie auch politische Erfahrungen wichtige Sozialisationsfaktoren für den Heranwachsenden in seiner identitätssensiblen Phase dar.
Tertiärsozialisation
Auf der Ebene der Tertiärsozialisation lässt sich das gesamte weitere Leben des einzelnen Menschen hinsichtlich seiner identitäts- und persönlichkeitsbildenden Außen- und Inneneinflüsse (im Sinne der psychischen und psychosozialen Verarbeitung der gemachten Erfahrungen) betrachten. Es geht um das Geformtwerden durch die eigene Familie, den Beruf, menschliche Begegnungen aller Art, Reisen, um biografisch-einschneidende Erfahrungen von Verlust und Krankheit in der Lebensspanne (und deren ge- oder misslingende Verarbeitung), letztlich umfasst die Tertiärsozialisation die gesamte ökonomisch-soziale und sozial-kulturelle Entwicklung und Beeinflussung des Menschen und seiner Persönlichkeit.12
4. Bildung
Ziel allen pädagogischen Strebens ist letztlich die umfassend gebildete Persönlichkeit des Menschen. Bildung meint entsprechend viel mehr als bloße Vielwisserei im Sinne breiter Allgemeinbildung (die freilich nicht hoch genug gewürdigt werden kann), sondern, als Definitionsvorschlag des Autors, eine „reflexive und proflexive Welt- und Selbsterkenntnis nebst individueller Selbstentfaltung im Modus der Selbst- und Mitbestimmung in hierfür als geeignet erkannten und entsprechend solidarisch (mit)gestalteten Lebensumwelten.“13 Mit etwas anderen Worten gesagt:
„Bildung ist reflektierte Welt- und Selbsterkenntnis, die auch der mündigen Selbstentfaltung dient und ein mitbestimmendes, selbstbestimmtes und mitmenschliches Leben ermöglicht und folglich solche Lebensverhältnisse anstrebt und teilhabend (mit)gestaltet, die hierfür als gedeihlich erkannt werden.“
Es ist dies zwar eine komplexe und etwas sperrige Definition, die aber besagter Vieldeutigkeit des Begriffs geschuldet ist. Bildung, so die feste Überzeugung nicht nur des Autors, ist letztlich die umfassendste aller pädagogischen Begrifflichkeiten, sie ist Letztziel und Letztbegründung allen pädagogische Handelns und Strebens.14 Sie kann, mit Wilhelm von Humboldt sprechend, als „Menschwerdung des Menschen“ begriffen werden, ganz der Erkenntnis Erasmus von Rotterdams (1469–1536) entsprechend, wonach Menschen nicht als Menschen geboren werden, sondern zu solchen erzogen werden. Alle im weiteren Verlauf des Buches benannten Bedingungen und Umstände gelingender Persönlichkeitsentwicklung haben letztlich den möglichst umfassend gebildeten Menschen zum Ziel. Bildung ist, wie gesagt, weitaus mehr als bloße Wissensaneignung. Nicht nur, dass es darum geht, welches Wissen gelernt wird: Vor allem Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Geschichte sind hier besonders unverzichtbare Wissensfelder. Es stellt sich auch die Frage, ob dieses Wissen auch verstanden und reflektiert, also analysiert, bewertet und in umfassendere Zusammenhänge eingeordnet worden ist bzw. eingeordnet werden kann. Bildung umfasst nämlich auch Werte und Prinzipien und darauf gründende Zielsetzungen und Individualvermögen, namentlich, mit Wolfgang Klafki sprechend, Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit.
Im folgenden soll deshalb genauer der Frage nachgegangen werden, was Bildung eigentlich genau meint, wofür sie steht, wo der Begriff herkommt und welche menschliche Qualität er im Kern bezeichnet. Mit anderen Worten: Was, also welche Eigenschaften und Kenntnisse kennzeichnen den gebildeten Menschen? In einem humanistischen Sinne stellt die gebildete Persönlichkeit schließlich das Letzt- und Leitziel (den sog. „Telos“) jeglicher Erziehung und Sozialisation dar. In aller Kürze vorab gesagt: Gebildet-sein meint