kann.
Die nichtstaatlichen Kommentatoren finden im Allgemeinen, das Buch enthülle mehr Biographisches als Programmatisches, mehr Anekdotisches als Politisches. Die Lektüre von Mein Kampf führt zu Schlussfolgerungen wie der: »Hitler mag niemanden. Er hat nur einen einzigen Instinkt: die Menschen zu beherrschen.«
Also konzentriert man sich eher auf die Details als darauf, sich ein Gesamtbild zu machen, so etwa der Deutsche Beamtenbund, der, gestützt auf ein Zitat aus dem Buch, die Anhänger der Partei warnt, der Nationalsozialismus stelle eine Gefahr für die Beamtenschaft dar. Oder wie das SPD-nahe Blatt, das festhält, was dieses Werk zur Lage der Frau sagt. Bei den Sozialdemokraten oder den Mitgliedern der katholischen Zentrumspartei wird der extreme Rassismus des Buches im Allgemeinen als nachrangig gegenüber den sozialen und institutionellen Vorstellungen betrachtet, die darin entwickelt werden. Die – mächtigen – Kirchen, die katholische wie die protestantische, treibt die Frage um, was Hitler über das Thema Religion schreibt. So besorgt sie angesichts der Feindseligkeit gegenüber dem Christentum sind, wie es in Mein Kampf und in den Reden ranghoher Nazis zum Ausdruck kommt, so gleichgültig zeigen sie sich hinsichtlich Rassismus und Antisemitismus. Ein Pastor schreibt in einem Brief an seine kirchlichen Vorgesetzten über Mein Kampf: »Das braucht mit persönlichem Judenhaß nichts zu tun zu haben, es ist gewissermaßen ein fachlicher Judenhaß …« und bagatellisiert damit das Thema.
Zu erfahren, was die Christen von Mein Kampf halten, ist keine Nebensache: Als es gilt, sich der Euthanasie der unheilbar »Geisteskranken« entgegenzustellen, ja sogar sich zu weigern, die Kruzifixe in den bayerischen Klassenzimmern abzuhängen, tun die Kirchen das mit Entschiedenheit und Erfolg. Auf die antisemitischen Verfolgungen dagegen reagieren die einzigen Institutionen, die es neben dem Generalstab der Wehrmacht im Dritten Reich wagen können, sich Hitler zu widersetzen, die Kirchen nämlich, nur zaghaft. Tatsächlich hat der Vatikan, dessen uneindeutige Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus bekannt ist, sich geweigert, Mein Kampf auf den Index zu setzen, im Gegensatz etwa zu Rosenbergs Mythos des 20. Jahrhunderts, wie Unterlagen aus den Archiven des Heiligen Offiziums enthüllen, die 2003 öffentlich gemacht wurden. Innerhalb der Kirchen werden nur wenige kritische Stimmen laut wie die von Pastor Becker, der seinen Oberhirten ihre Unfähigkeit vorwirft, auf den Rassismus, die Brutalität, den Schrecken und die Lügen zu reagieren, aus denen sich diese »neue Ideologie« zusammensetzt.
In Deutschland gibt es nicht allzu viele warnende Stimmen, aber es gibt sie. In einem 1932 erschienenen Essay erklärt der Politikwissenschaftler Sigmund Neumann, der später in die USA emigrieren wird, es sei schwer einschätzbar, was eine NSDAP an der Macht bedeuten könnte, da sie ja noch nie die Regierung gebildet habe; die Lektüre von Mein Kampf lasse allerdings darauf schließen, dass man auf eine »Durchpolitisierung aller Lebensbezirke« zugehe, obwohl auch in seinen Schriften der Antisemitismus als bloßes Randthema abgehandelt wird.[37] Der Journalist Siegfried Mette, einer der scharfsichtigsten Beobachter des politischen Lebens in Deutschland, beschreibt im Frühjahr 1932 den fanatischen Antisemitismus als die Basis des Hitler’schen Denksystems und warnt vor dem kollektiven Selbstmord, zu dem seine außenpolitischen Pläne führen würden. Doch diese kleine Schrift findet kaum ein Echo, im Gegensatz zu dem Buch von Theodor Heuss, Hitlers Weg, einem zu der Zeit beachtlichen Erfolg im Buchhandel. Heuss, ein Gegner des Nationalsozialismus, zitiert darin mehrmals aus Mein Kampf, kommt aber zu dem Schluss, dass im Vergleich zu den radikalen Ansichten in seinem Buch der Chef der NSDAP vernünftig geworden sei.
Manche Analytiker der linken Opposition zeigen sich hellsichtiger als die anderen. So greift eine von August Siemsen verfasste SPD-Broschüre zahlreiche Zitate aus dem Text heraus und stellt klar: »Diese Sprache ist so deutlich, daß nur wenig Kommentar nötig ist.« Im folgenden Jahr findet eine andere Broschüre, Hitler gegen die Lebensinteressen Deutschlands. Der beabsichtigte Krieg gegen Frankreich, Rußland und die Randstaaten, große Verbreitung, die vor Hitlers Kriegsplänen gegen Russland und Frankreich warnt. Der Verfasser drückt abschließend seine Ratlosigkeit hinsichtlich der Gründe aus, die den Führer der NSDAP dazu gebracht haben, solche Pläne derart offen zu formulieren: »Da stimmt etwas nicht bei Herrn Hitler«, folgert er und bezeugt so seine Verwirrung angesichts eines bislang unbekannten Phänomens.
Aufseiten der Kommunisten, der wichtigen politischen Kraft an den Urnen wie auf der Straße, wird Mein Kampf kaum zur Kenntnis genommen; die KPD betrachtet die NSDAP tatsächlich als eine Partei ohne Anschauungen, ohne Prinzipien, als bloße Marionette der reaktionären deutschen Bourgeoisie. Warum sich also die Mühe machen und ihren Referenztext studieren? Die KPD, die den Nationalsozialismus nur als sekundären Gegner betrachtet – Hauptfeind ist die Sozialdemokratie –, ändert ihre Meinung erst spät: Einige der prominenten kommunistischen Vertreter decken schließlich auf, was die Nazis fälschlich als sozialistische Politik bezeichnen, mit Zitaten aus Mein Kampf zum Nachweis.
Die jüdischen Zeitungen und die sonstigen Publikationen, von denen es in dieser aktiven und gut organisierten jüdischen Gemeinschaft viele gibt, werden offenbar in ihrer ganzen Aufmerksamkeit und all ihren Möglichkeiten der Empörung von den alltäglichen antisemitischen Gewalttätigkeiten in Anspruch genommen, die den Aufstieg des Nationalsozialismus begleiten. Alle wissen sehr wohl, dass der Aufstieg der Nazis zur Macht einen extremen staatlichen Antisemitismus zur Folge hätte, eine grausame Unterdrückung, den Ausschluss aus der Gesellschaft. Aber genau wie die politischen und intellektuellen Kreise tut sich die Mehrzahl der Juden schwer, zwischen den Zeilen des Buches die Umrisse einer neuartigen Radikalität zu erkennen. Wie so viele andere denken und hoffen sie, dass die Nazis zur Vernunft kommen werden, wenn sie erst einmal an der Macht sind. Manche sehen im Nationalsozialismus ohnehin nur ein Fortschreiben des an sich unverständlichen antisemitischen Wahnwitzes. Warum sich mit noch so einem antisemitischen Buch befassen, wo die Nazi-Reden doch schon omnipräsent sind, in den Zeitungen, im Radio und bei den Versammlungen?
Je näher Hitler der Macht kommt, desto mehr Aufmerksamkeit schenken seine Gegner und das politische Personal der Weimarer Republik seinen Schriften. Aber wie soll man dieses seltsame Buch interpretieren, das nicht den Mustern des politischen Denkens und der üblichen politischen Praxis entspricht? Anders gesagt, wie soll man dieses radikal neuartige, außerordentliche Machwerk einschätzen – weder ein Programm im eigentlichen Sinn noch eine richtige Biographie, romantisch und zugleich politisch? Und wie kann ein Buch, dessen Inhalt für jeden rational Denkenden an Wahnvorstellungen grenzt, schon gefährlich sein? Verdient dieses allzu verrückte, allzu vulgäre, von einer fast lächerlichen Leidenschaft erfüllte Buch überhaupt mehr als Desinteresse? Dass sie mit allen möglichen Ansichten und politischen Ausrichtungen vertraut sind, hat die Eliten der Weimarer Republik nicht hellsichtiger werden lassen; die alten Denkgewohnheiten haben sie eher blind gemacht. Wie Plöckinger zusammenfassend konstatiert: »Das war eine Frage, die man auch immer wieder gestellt hat, sehr unterschiedliche Interpretationen zum Teil. Würde er das wirklich wahrmachen, was er schreibt, oder ist das nur das Buch eines Propagandisten der Zwanzigerjahre, und die Politik würde dann ganz anders ausschauen.
Dort hat man durchaus gelegentlich sich auch etwas lustig gemacht darüber, dass, was er sich vorstellt, ist nicht machbar, das sind Hirngespinste, die in der realen Politik nicht umsetzbar waren, bis hin zu durchaus warnenden Stimmen: eine Partei und ein Parteiführer, die in der Praxis so radikal vorgehen, wären durchaus auch in der Lage, hier sehr radikale Maßnahmen zu setzen.«[38]
Der Historiker Karl Lange hat seinerzeit eine Umfrage unter Hitlergegnern durchgeführt: Vor Januar 1933 erklären 11 von 120 befragten Personen, sie hätten Mein Kampf vollständig gelesen, 16 teilweise. Nach 1933 werden es 61 sein, die das Buch ganz oder teilweise gelesen haben. Doch selbst wenn sie es gelesen haben, schlussfolgert Lange, so haben sie es im Allgemeinen nicht geglaubt. Dabei hatten sie doch 1933 die Reklame in der Nazi-Presse gesehen, die es sinngemäß so auf den Punkt brachte: Nur wer Mein Kampf gelesen hat, kennt Hitler und seine Bewegung. Dieses Buch legt den Grundstein und definiert die Ziele des Nationalsozialismus. Man hätte davon ausgehen müssen, dass auch die Nazi-Propaganda die Wahrheit sagen könnte.
Hitlers Befürchtung, zu viel gesagt zu haben, hat sich als nichtig erwiesen. In gewisser Weise hat die Strahlkraft der in Mein Kampf enthaltenen Behauptungen seine Zeitgenossen eher verblendet als erleuchtet.