regelmäßig besucht und die Kinder, während sie heranwuchsen, auch zu sich eingeladen oder sie einmal von der Schule abgeholt und zum Essen ausgeführt. Und dann kam der Höhepunkt: Der Junge oder das Mädchen wurde einundzwanzig Jahre alt, aus welchem Anlass die Patin entweder das Richtige tun musste oder jemand damit beauftragte, oder es wurde geheiratet, und da machte man das gleiche Geschenk oder schickte Geld. Danach entschwanden die Patenkinder meistens in den Hintergrund. Sie reisten ins Ausland, arbeiteten im Auswärtigen Amt, lehrten in fremden Ländern oder kümmerten sich um soziale Angelegenheiten. Jedenfalls verblasste die Erinnerung an sie immer mehr. Man freute sich, wenn man ihnen plötzlich irgendwo begegnete, aber man musste sich dann schon überlegen, wann man sie zum letzten Mal gesehen hatte, wessen Sohn oder Tochter sie waren und aus welchem Grund man eigentlich zur Patin ausgewählt worden war.
»Celia Ravenscroft«, sagte Mrs Oliver nun gutmütig. »Ja, ja, sie ist mein Patenkind. Stimmt.«
Nicht, dass nun Celia Ravenscrofts Bild vor ihrem inneren Auge erstanden wäre, höchstens eines aus sehr, sehr früher Zeit. Die Taufe. Sie war bei Celias Taufe gewesen und hatte ein ganz reizendes silbernes Queen-Anne-Teesieb als Geschenk gefunden. Sehr hübsch war es gewesen. Man konnte es auch für Milch benutzen. Außerdem gehörte es zu den Gegenständen, die ein Patenkind stets leicht versetzen konnte, falls es rasch ein bisschen Geld brauchte. Wie viel leichter es doch war, sich an silberne Kaffeekannen, Siebe oder Taufbecher zu erinnern als an das Kind selbst …
»Ja«, sagte Mrs Oliver. »Tatsächlich. Aber ich habe Celia leider sehr lange nicht gesehen.«
»Sie ist ein ziemlich impulsives Mädchen«, erklärte Mrs Burton-Cox. »Ich meine, sie ändert ständig ihre Meinung. Sehr intelligent, sehr gut auf der Universität, aber – ihre politischen Ansichten … Ich nehme an, dass heutzutage alle jungen Leute politisch interessiert sind.«
»Ich befasse mich nicht viel mit Politik«, sagte Mrs Oliver, die Politik hasste.
»Wissen Sie, ich möchte Ihnen etwas anvertrauen. Ich werde Ihnen genau sagen, was ich herausbringen möchte. Ich weiß, es macht Ihnen nichts aus. So viel Leute haben mir erzählt, wie gütig Sie sind, wie hilfsbereit.«
Ob sie mich anpumpen will, überlegte Mrs Oliver, die viele Gespräche erlebt hatte, die auf diese Weise anfingen.
»Die Angelegenheit ist für mich äußerst wichtig. Ich muss es einfach herausfinden. Celia wird nämlich – oder glaubt, sie wird – meinen Sohn Desmond heiraten.«
»Ach, tatsächlich!«, rief Mrs Oliver.
»Jedenfalls haben die beiden das im Augenblick vor. Natürlich muss man über die Leute Bescheid wissen, und da gibt es etwas, das ich sehr gern herauskriegen möchte. Es ist ziemlich ungewöhnlich, und ich könnte nicht irgendeinen Fremden fragen, aber Sie empfinde ich nicht als Fremde, liebe Mrs Oliver!«
Mrs Oliver dachte, ich wünschte, du tätest es. Sie wurde jetzt nervös. Sie überlegte, ob Celia vielleicht ein uneheliches Kind hatte oder kriegte oder ob man von ihr, Mrs Oliver, erwartete, dass sie Einzelheiten wüsste. Das wäre sehr peinlich. Andererseits hatte sie Celia seit fünf oder sechs Jahren nicht mehr gesehen. Sie musste jetzt ungefähr fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig sein. Es würde ihr also nicht schwerfallen zu erklären, dass sie keine Ahnung habe.
Mrs Burton-Cox beugte sich vor und atmete heftig. »Sie müssen es mir sagen, denn ich bin sicher, dass Sie es wissen oder doch vermuten, wie alles gekommen ist. Hat ihre Mutter ihren Vater getötet, oder war es der Vater, der die Mutter tötete?«
Mrs Oliver war auf alles gefasst gewesen, aber bestimmt nicht darauf. Sie starrte Mrs Burton-Cox ungläubig an.
»Aber ich – ich verstehe Sie nicht. Ich meine, aus welchem Grund …«
»Liebe Mrs Oliver, Sie müssen es doch wissen … Es war ein berühmter Fall … Natürlich ist es schon lange her, zehn, zwanzig Jahre mindestens, aber die Sache erregte damals viel Aufsehen. Ich bin überzeugt, dass Sie sich erinnern! Sie müssen sich erinnern!«
Mrs Olivers Gehirn arbeitete fieberhaft. Celia war ihr Patenkind. Das stimmte. Celias Mutter … Ja, natürlich! Celias Mutter war Molly Preston-Grey gewesen, mit der sie befreundet gewesen war, wenn auch nicht besonders intim, ja natürlich … Sie hatte einen Mann von der Armee geheiratet … Wie hieß er gleich … Sir Sowieso Ravenscroft. Oder war er Botschafter? Unglaublich, dass man sich an diese Dinge nicht mehr erinnerte. Sie wusste nicht einmal genau, ob sie Mollys Brautjungfer gewesen war. Sie glaubte, ja. Später hatten sie sich jahrelang nicht gesehen. Sie gingen ins Ausland, in den Mittleren Osten? Nach Persien? Indien? Nur gelegentlich, wenn sie auf Besuch in England waren, hatten sie sich wiedergesehen. Sie hatten sie an eine alte Fotografie erinnert, die man in die Hand nimmt und betrachtet. Man kennt die Leute darauf von irgendwoher, aber das Bild ist so verblasst, dass man sie kaum wiedererkennt oder sich erinnert, wer sie eigentlich sind. Und nun wusste sie nicht einmal genau, ob Sir Ravenscroft und Lady Ravenscroft, geborene Preston-Grey, in ihrem Leben wichtig gewesen waren. Sie glaubte nicht.
Mrs Burton-Cox sah sie immer noch an, als ob sie von ihrem Unvermögen, sich an einen so berühmten Fall zu erinnern, enttäuscht wäre.
»Getötet? Sie meinen – ein Unfall?«, fragte Mrs Oliver.
»Aber nein. Kein Unfall. In einem Haus am Meer. Cornwall, glaube ich. Irgendwo – wo Felsen waren. Jedenfalls hatten sie dort ein Haus. Und sie wurden beide in den Klippen gefunden – erschossen, wissen Sie! Aber die Polizei konnte nicht herausfinden, ob die Frau den Mann und dann sich selbst erschossen hatte oder der Mann die Frau und dann sich. Sie haben die Kugeln und alles mögliche Beweismaterial untersucht, aber es war sehr schwierig. Man vermutete einen Doppelselbstmord. Ich habe vergessen, zu welchem Urteil man kam. Irgendwas – Unfall oder so. Aber natürlich hat jeder gewusst, dass es Absicht war. Und natürlich kursierte damals eine Menge Gerüchte …«
»Wahrscheinlich alles erfunden«, sagte Mrs Oliver hoffnungsvoll und versuchte, sich wenigstens an eines dieser Gerüchte zu erinnern.
»Kann sein. Kann sein. Schwer zu sagen, wissen Sie. Es soll Streitigkeiten gegeben haben, am selben Tag oder vorher, es war von einem andern Mann die Rede, und natürlich wie gewöhnlich davon, dass da eine andere Frau gewesen ist. Man weiß nicht, was wirklich geschah. Ich glaube, es ist vieles totgeschwiegen worden, weil General Ravenscroft eine so hohe Position hatte. Es hieß auch, dass er in dem Jahr in einer Klinik gewesen war und sehr krank war oder so was. Dass er gar nicht wusste, was er tat!«
»Es tut mir wirklich leid«, antwortete Mrs Oliver mit fester Stimme, »dass ich überhaupt nichts darüber weiß. Nun, da Sie die Sache erwähnen, erinnere ich mich vage, auch an die Namen und dass ich die Leute kenne, aber ich habe nie gewusst, was wirklich los war. Ich habe nicht die leiseste Idee …«
Wirklich, dachte Mrs Oliver, hätte ich doch bloß den Mut, der Person zu sagen, woher sie in Teufels Namen die Dreistigkeit nimmt, mich so was zu fragen.
»Es ist nämlich sehr wichtig für mich, die Wahrheit zu erfahren«, sagte Mrs Burton-Cox. Ihre Augen, die aussahen wie Kieselsteine, wurden scharf. »Es ist deshalb wichtig, weil mein Junge, mein lieber Junge, Celia heiraten will.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen, ich habe nie etwas gehört.«
»Aber Sie müssen es wissen! Sie schreiben doch so herrliche Geschichten. Sie wissen alles über Verbrechen, wer sie begeht und warum. Ich bin sicher, dass alle möglichen Leute Ihnen die Geschichte hinter der Geschichte erzählen, weil Sie so viel mit diesen Dingen zu tun haben.«
»Ich weiß überhaupt nichts«, sagte Mrs Oliver. Ihre Stimme war nicht mehr so höflich und klang ausgesprochen abweisend.
»Aber man kann doch jetzt nach all den Jahren nicht einfach zur Polizei gehen! Sie würden einem doch nichts sagen. Offensichtlich wollte man damals alles vertuschen. Aber ich habe einfach das Gefühl, dass ich die Wahrheit wissen muss.«
»Ich schreibe nur Bücher«, meinte Mrs Oliver kalt. »Sie sind völlig erfunden. Ich persönlich weiß nichts über Verbrechen und habe keine Meinung über Kriminologie. Deshalb kann ich Ihnen leider in keiner Weise helfen.«