fragte ich.
»Claude.«
»Danke für Ihre Unterstützung, Claude«, sagte ich und drückte ihm die Hand.
Da kamen meine alten politischen Reflexe zum Vorschein. Nennt man den Wähler beim Vornamen, schafft das Vertrautheit, Vertrautheit ist die Schwester des Vertrauens, und das Vertrauen ist die Mutter aller Stimmzettel.
Er entfernte sich, mit dem Tablett an der Schulter, Wampe voran. Sein kleiner Exkurs über die Wahlen hatte mich aus meinen melancholischen Träumereien gerissen. Das friedliche Gefühl vom Anfang dieser einfachen Mahlzeit hatte sich abgeschwächt. Doch als die Sonne eine Wolkenlücke nutzte, um alle Terrassen zu erhellen, kam es noch stärker zurück. Ich schloss die Augen und trank einen Schluck lauwarmen Kaffee. Das Bild, das mir in den Sinn kam, war das eines Juninachmittags während der Abiturprüfungen. In allen Einzelheiten hatte ich das Café vor Augen, in dem ich nach dem Philosophieexamen saß. Ein kleines Bistro mit rot-weißer Markise. Auch damals hatte ich einen Kaffee und hart gekochte Eier bestellt. Dann wurde die Erinnerung deutlicher, wie ein Foto, das im Entwicklerbad der Dunkelkammer sichtbar wird. Mein Klassenkamerad Clément Jacquier mit den halblangen Haaren, denen er seine Ähnlichkeit mit Bonaparte verdankt, kommt vorbei, seinen apfelgrünen Rucksack über der Schulter, an dessen Seite die ausgestreckte Zunge der Rolling Stones aufgenäht ist.
»Was hast du genommen?«, fragt er.
Und ich höre mich antworten: »›Erklärt die Vergangenheit die Gegenwart?‹ Und du?«
»Den Satz von Descartes, aber am Ende war ich nicht besonders gut. Ich hab irgendwie Kierkegaard und Kant verwechselt.«
Clément Jacquier interessierte sich nur für Film und wollte Regisseur werden. Sein Idol war François Truffaut, dessen Foto er auf sein Schreibheft geklebt hatte. Lange habe ich im Kino den Vermerk »ein Film von« mit seinem Namen gesucht. Doch kein Clément Jacquier hatte sich in der siebten Kunst hervorgetan. Was war aus ihm geworden? Ein Geheimnis liegt über dem Schicksal der Jungen und Mädchen, mit denen wir jahrelang unsere Zeit verbracht haben und die wir nach einer Prüfung verlassen und nie wiedersehen. Es ist, als lebten sie in einer anderen Dimension, einem Zeit-Raum, der uns nicht zugänglich ist.
Alter, Kinderkrankheiten, Probleme in jüngster Zeit. Seit einigen Minuten folgte eine Frage der nächsten.
»Müdigkeit vielleicht?«, fragte er mich, als würde er sie zum Verkauf anbieten, diese Müdigkeit: Darf’s noch etwas Müdigkeit sein? Ja, bitte packen Sie mir ein schönes Bund dazu.
»Ich bin etwas abgespannt«, gab ich zu.
»Schlafprobleme?«
»Ich stehe spät auf.«
»Sehr spät?«
»Spät.«
»Lustlosigkeit? Beim Essen, beim Sex, überhaupt?«
»War schon mal besser«, antwortete ich trocken.
»Ängste?«
Eine Handvoll Ängste mit der Müdigkeit in einer Brühe aus Schnauzevoll köcheln lassen, nach einer Stunde ein paar Scheiben Schlaf dazugeben.
»Ja, Ängste, obwohl, ich weiß nicht recht. Nostalgie.«
Das Wort machte ihn neugierig.
»Können Sie das genauer beschreiben?«, fragte er mich.
Meine Geschichte vom Klassenfoto und den harten Eiern auf der Terrasse mit der Erinnerung an Clément Jacquier interessierte ihn sehr.
»Ich erinnere mich auch noch! Zehn Jahre nach dem Abi«, sagte er, versank in seinen Sessel und ließ den Blick ins Leere schweifen. »Wir hatten eine Art Schwur abgelegt.«
Er starrte auf die alte Siebziger-Jahre-Lampe aus gebürstetem Stahl. Das Dekor seines Büros hatte sich seit Pompidou nicht verändert, was irgendwie eine beruhigende Atmosphäre schuf; die Moderne hatte keinen Zugang, und draußen auf der Straße würde ich wahrscheinlich diversen Citroën DS, Peugeot 204 und Frauen in A-Linien-Kleidern begegnen.
»Ein Schwur?«
»Ja. Es war mein letzter Schultag in Lyon. Wir schrieben unsere Namen auf ein Blatt Papier, eine kleine Gruppe, vielleicht zehn der fünfundzwanzig Schüler. Wir vereinbarten, dass wir uns zehn Jahre später vor der Tür des Gymnasiums wieder treffen würden, auf den Tag und die Stunde genau, am 11. Juni 1973, ich habe 1963 Abitur gemacht. Während dieser zehn Jahre haben wir uns nicht gesehen. Rein zufällig, ich hatte diese Abmachung völlig vergessen, fand ich den Kalender wieder, in dem ich das Datum eingetragen hatte. Drei Monate später, am 11. Juni um 19 Uhr, ging ich zum Gymnasium. Ich war überzeugt, dass niemand kommen würde, dass die Jugendwette im Leben untergegangen war. Zehn Minuten später kam Pierre Larnaudy um die Ecke, er hatte sich auch daran erinnert und war auf Verdacht gekommen. Dann Marie Lelièvre, Francis Joincourt … Es ist lange her, dass ich diese Namen ausgesprochen habe. Eine halbe Stunde später waren wir zu sechst. Wir hatten uns erinnert.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Wir haben uns in eine Eckkneipe gesetzt. Wir haben geredet, bis sie zugemacht hat, ich erinnere mich genau, es war sehr heiß, es war ein schöner Abend«, schwärmte er, während er auf die Wand starrte, als würde er darauf Dias dieser Augenblicke aus seiner Jugend sehen.
»Haben Sie sich danach wiedergesehen?«
»Ich hab noch zwei, drei Mal von diesem oder jenem gehört, dann nichts mehr. C’est la vie«, schloss er und sah mich an.
Neben diesen Betrachtungen über das Wiederfinden alter Klassenkameraden diagnostizierte Doktor Francœur bei mir eine leichte depressive Phase mit gelegentlichen Angstzuständen. Die Geschichte mit dem Foto hatte das Eis zwischen uns gebrochen. Er wusste natürlich, wer ich war und versicherte mir, er könne gut verstehen, dass meine Niederlage psychische Turbulenzen ausgelöst habe. Er fand meinen Zustand nicht weiter besorgniserregend. Stilnox zum Einschlafen und das Beruhigungsmittel Temesta, das ich nur bei Bedarf nehmen sollte, würden mir bestimmt helfen, die Krise zu überwinden.
»Ich habe letzten Dienstag mit meinen Kindern im La Musarde Mittag gegessen«, sagte er mir vertraulich. »Ein Genuss, bitte sagen Sie es Ihrer Gattin!«
»Das mache ich bestimmt«, versicherte ich.
Die Arztpraxis war nicht weit vom La Musarde entfernt. Ich nutzte die Gelegenheit, um Sylvie vor der Essenszeit zu besuchen und sie über meinen Geisteszustand zu beruhigen. Ja, ich war depressiv, aber leicht, und es war nichts Schwerwiegendes. Mein Schlafrhythmus würde sich mit Hilfe des Medikaments von dem unserer Katze entfernen. Das Beruhigungsmittel konnte ich unmöglich in der Apotheke von Perisac kaufen, dann hätte die ganze Stadt Bescheid gewusst. Ich würde mit dem Auto nach Beaulieu fahren und es dort holen. Aber die Fahrt hatte auch ein paar Tage Zeit.
Éric, der Oberkellner, öffnete die Tür und drückte mir die Hand.
»Ich freue mich, Sie zu sehen. Essen Sie mit uns?«
»Nein, ich will nur bei Sylvie vorbeischauen.«
»Sie ist in der Küche und probiert etwas aus, ich lasse sie rufen.«
»Nein, wenn sie etwas ausprobiert, stören Sie sie bitte nicht.«
Ich wusste besser als Éric, dass man meine Frau beim Kochen nicht stören durfte.
»Einen kleinen Aperitif vielleicht? Den Kir Royal des Hauses?«
»Einverstanden.«
»Den Tisch zum Garten für Monsieur Heurtevent«, wies er einen Kellner an, der mich dorthin führte.
Ich trank langsam meinen Kir Royal und genoss dabei den Blick auf den Innengarten, die Nachahmung französischer Rabatten mit kugelförmig gestutzten Sträuchern an allen vier Ecken, den Brunnen aus rosa Marmor und das an einer Wand hängende schmiedeeiserne Schild, das Sylvies Vater einem Antiquitätenhändler abgekauft hatte. Darauf stand in schwarzen Eisenlettern »La Musarde«, verziert mit Köpfen von Windhunden und Weinranken aus Blattgold. Das Schild blieb ein