Heide Nullmeyer

So wird es kommen


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bis zur Sendung ein modernes Radio zu besorgen. Wir hatten noch einen „Volksempfänger“ aus der Nazi-Zeit.

      Wenige Tage nach der Ankündigung, ging eine Lehrerin durch die Reihen und verteilte Texte für die bevorstehenden Probeaufnahmen. Als ich nach einem Blatt greifen wollte, raunte sie: „Das kannst du nicht.“ Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Dieser Satz brannte sich in mein Herz. Wie in Trance sah ich die Lehrerin an mir vorbeigehen. In diesem Moment war ich wie gelähmt, unfähig, mich zu wehren. Hinter meinem Rücken wurde getuschelt. „Die kann das nicht.“ In mir wuchs die Empörung. „Ihr werdet es schon sehen! Euch werde ich es zeigen! Ich bin besser als ihr alle zusammen!“

      Noch ein Mädchen aus meiner Klasse durfte nicht mitmachen. Waltraud, eine pummelige, schwarzhaarige Schülerin, mit der ich manchmal den Schulweg teilte. Als der Unterricht zu Ende war, nahm ich Waltraud zur Seite. Ich wollte mir ein Versprechen geben und dazu brauchte ich eine Zeugin. In der Nähe der Schule gab es einen Brunnen, an dem ich manchmal das Wasser beobachtete, das aus der oberen Etage heraussprudelte. Dort wollte ich einen Schwur ablegen. Ich war tief verletzt, aber auch voller Empörung. Ich vermutete, dass meine unklaren familiären Verhältnisse hinter der Ablehnung standen. Man wollte mich nicht. Ich passte nicht in dieses Elite-Gymnasium. Diese Diskriminierung forderte meinen Widerstand heraus. „Die werden schon sehen“, sagte ich zu Waltraud. „Was meinst du denn?“ Ich zerrte Waltraud an der Jacke, damit sie mitkam.

      Am Brunnen angekommen, zog ich ein Zehn-Pfennig-Stück aus meinem kleinen Geldbeutel und warf es ins Wasser. Ich legte Mittel- und Zeigefinger meiner rechten Hand übereinander und sagte zornig und mit zitternder Stimme: „Hiermit schwöre ich: „Ich werde es allen zeigen und ich werde euch beweisen, dass ich eines Tages im Radio sprechen werde!“ Ich bekräftigte es noch einmal: „Ich schwöre es!“ Waltraud war fassungslos. „Wie willst du das denn machen?“, fragte sie. „Warts ab, du wirst es sehen.“ Ich war überzeugt: „So wird es kommen.“

       1969 – 16 Jahre später

      Ein Freitagnachmittag. Kurz vor Feierabend. Lutz Horstmann, ein junger Realisator des Regionalprogramms von Radio Bremen Fernsehen, kam aufgeregt in mein Büro. „Kennst du jemand, der mir morgen auf Französisch ein Interview machen kann?“ „Mit wem?“ „Mit Jean Claude Pascal, dem Sänger.“ Ich zögerte keinen Moment: „Ja, ich. Ich kann dir das machen.“

      Da war sie, die Chance, meinen Schwur als Dreizehnjährige am Brunnen in Frankfurt zu verwirklichen. Wahrscheinlich hatte dieses Versprechen jahrelang in meinem Unterbewusstsein geschlummert, hatte meine Fantasie angeregt und mich Wege gehen lassen, die auf diesen Moment hingearbeitet haben. Angst kroch in mir hoch. Jetzt nicht kneifen, dachte ich. Vielleicht eine einmalige Gelegenheit. Ich war fest entschlossen, diesen Moment am „Schopfe zu packen“.

      Dazwischen lagen sechzehn Jahre mit Enttäuschungen und geplatzten Träumen: Das Aus am Gymnasium, eine belastende Erfahrung mit fünfzehn, die ich lange tief in mir verborgen hielt, die spektakuläre Hochzeit mit einem Griechen in Athen, die Rückkehr nach Deutschland. Nach mehreren Umwegen landete ich bei Radio Bremen als Sekretärin in der Produktionsabteilung. Schon ein halbes Jahr später bewarb ich mich auf eine freigewordene Stelle als Assistentin in der Abteilung Kultur und Gesellschaft. Von Anfang an wurde ich in die Arbeitsabläufe einer Redaktion einbezogen. In dieser Zeit verantwortete unsere Abteilung zum Beispiel die Filme „Halbgötter in Weiß“ von Ramon Gill - „Warum ist Frau B. glücklich?“ von Erika Runge – „Rote Fahnen sieht man besser“ von Theo Gallehr und Rolf Schübel. Sehr bald schon durfte ich auch selbstständig Aufgaben übernehmen.

      „Kannst du denn Französisch?“, fragte der junge Mann. „Ja, kann ich, ich wollte ja mal Dolmetscherin werden und habe einige Monate in Neuchâtel an einer Sprachschule Französisch gebüffelt.“ „Ach ja? In Ordnung, wenn du dir das zutraust.“ „Würde ich das sonst sagen?“, bemühte ich mich, unbefangen zu reagieren. Dann sagte er noch, dass die Dreharbeiten ins Wasser fielen, falls es regnen würde. Er habe keinen Beleuchter, deshalb käme nur ein Dreh im Freien infrage. Ich schluckte. „Ok, wann soll es denn losgehen?“ Meine Stimme klang normal. Aber unter meinen Achselhöhlen, brach mir der Schweiß aus. „Um neun im Foyer“, verabschiedete er sich.

      Hatte ich mir zu viel vorgenommen? Würde ich diese Aufgabe meistern? Was sollte ich fragen? Ich wusste von Jean Claude Pascal nur, dass er Sänger war. Und wie er aussah. In einer Zeitung hatte ich ein Foto von ihm gesehen. Er lehnte lässig mit einer auffallend langen Zigarettenspitze in der Hand an einem Baum. Ich hatte noch nie ein Interview gemacht und schon gar nicht in einer mir nicht vertrauten Sprache. Mindestens zwei Jahre hatte ich kein Französisch mehr gesprochen. Ich rief im Archiv an. „Könnt ihr mir einige Unterlagen zu Jean Claude Pascal rüberschicken. Ich soll den morgen interviewen.“ Da es kurz vor Feierabend war, waren die Kollegen nicht begeistert. „Du hättest dich auch eher melden können!“ Die Unterlagen kamen mit dem letzten Bus, der mehrmals am Tag zwischen Hörfunk und Fernsehen hin und her pendelte. Die beiden Häuser lagen einige Kilometer voneinander entfernt. Mit einem Kloß im Hals fuhr ich mit den Informationen über den Sänger mit der Schmuse-Stimme nach Hause.

      Jean Claude Pascal war der Sohn eines erfolgreichen Textil-Industriellen in Paris. Mit siebzehn Jahren hatte er gegen die deutsche Besatzung in Frankreich gekämpft, was ihm einen Orden einbrachte. Er hatte Jura und Wirtschaftswissenschaft an der Sorbonne in Paris studiert und später als Designer und Model bei Dior und Hermès angeheuert. Seine Kostümentwürfe brachten ihn mit der Schauspielerei in Kontakt. Romy Schneider und Brigitte Bardot waren unter anderen seine Kinofilm-Partnerinnen. 1961 gewann er mit „Nous les amoureux“ („Wir, die Verliebten“) den Eurovision Song Contest. Eine poetische Erzählung von zwei Menschen, deren Liebe die Gesellschaft nicht zulässt. Der Text war so geschickt formuliert, dass die meisten Menschen von einem heterosexuellen Paar ausgingen. Dass damit zwei Männer gemeint sein konnten, galt in den sechziger Jahren als Tabu.

      Nachdem ich alles gelesen hatte, fing ich an, Fragen zu formulieren. Bis nach Mitternacht grübelte ich daran. Dann besprach ich ein Tonband, hörte meine Fragen mehrmals ab und fiel um drei Uhr morgens todmüde ins Bett.

      Der nächste Morgen. Trüb, aber ohne Regen. Das Chanson mit Jean Claude Pascal wurde in der Nähe des Bremer Hauptbahnhofs Playback aufgenommen. Dem Sänger wurde von einem Tonträger ein bereits produziertes Musikstück vorgespielt, dazu bewegte er synchron seine Lippen. Diese Prozedur wurde aus verschiedenen Kameraperspektiven einige Male wiederholt. Währenddessen ging ich im Stillen meine Fragen durch.

      Jean Claude Pascal kam mir freundlich entgegen. Verlegen sagte ich, mein Französisch sei so lala, ich hätte aber Fragen vorbereitet. Er antwortete charmant, ich soll einfach loslegen. Die ersten Minuten liefen ohne Panne ab. Dann wagte ich es, ihn auf den Inhalt des Eurovisions-Songs anzusprechen und damit auch auf das Thema „Homosexualität“. Er stutzte kurz und stellte dann eine Gegenfrage. Oh je, was jetzt? In Sekundenschnelle entschied ich mich, mein Konzept über den Haufen zu werfen und einfach mit ihm zu plaudern. Dadurch entwickelte sich ein lockerer Schlagabtausch zwischen uns. Heute weiß ich nicht mehr, wie das Interview überhaupt weiter ging. Jedenfalls überreichte er mir zum Abschied ein Porträtfoto mit einer Widmung: „Für Heide alles Gute.“ Für den Sänger war es ein gewohnt routinierter Auftritt. Für mich ein aufregendes Ereignis. Ich grübelte den Rest des Tages bis in die Nacht, was ich hätte besser machen können. Der junge Realisator versicherte mir, alles sei in Ordnung, doch es beruhigte mich nicht.

      Wenige Tage später wurde der Song mit Teilen meines Interviews gesendet. Ich fühlte mich nach der Sendung vor dem Fernseher wie ein Häufchen Elend. Warum hatte ich nicht diese Frage gestellt? Warum bin ich nicht ganz anders auf seine Antworten eingegangen? Zu spät. Ich hatte mein erstes Interview in den Sand gesetzt, davon war ich überzeugt.

      Am nächsten Tag schlich ich mich durch die Hintertür in den Sender. Ich hatte Angst, Kolleginnen oder Kollegen zu begegnen. Ich war absolut sicher, sie würden meine Unsicherheit kritisch hinterfragen. Niemand kam. Niemand