Sie angesaugt und verschwinden irgendwo da drin.“
Ich drehte mich um und sah in einiger Entfernung von uns einen Mann in dunklem Anzug und mit Schlägermütze, die ihm schief in der Stirn saß. Er hatte den rechten Arm erhoben und zeigte mit der Hand auf das grüne Tor.
„Wie meinen Sie das?“, fragte ich grob.
„Ich meine überhaupt nichts“, antwortete er und schien über meine Frage zu lachen. „Ich habe nur gesagt, dass Sie aufpassen sollen.“ Dann wandte er sich ab.
Für Andrea schien diese Warnung zu spät gekommen zu sein. Sie war einige Schritte weiter gegangen, trat mit dem rechten Fuß auf den roten Pfeil und – die grünen Torflügel fuhren mit einem zischenden Geräusch auseinander. Andrea, die schrie und sich heftig wehrte, wurde wie von unsichtbaren Fäusten gepackt und ins Innere gezogen, das mir wie ein großer Haufen Sand erschien. Sand spritzte mir auch in Gesicht, als sich das Tor mit dem gleichen zischenden Geräusch wieder schloss und Andrea meine Blicken entzog. Ich wartete noch eine Weile und suchte nach dem Mann, der uns gewarnt hatte. Aber auch er war verschwunden.
Was sollte ich tun? Was konnte ich tun? Sollte ich warten, bis Andrea auf ebenso zufällige und geheimnisvolle Weise wieder auftauchte, wie sie verschwunden war? Oder sollte ich ihr folgen und durch das grüne Tor gehen, falls es sich für mich öffnete? Immerhin hätte das den Vorteil, dass ich erfahren würde, was sich hinter der Mauer außer einem Haufen Sand vor unseren Blicken verbarg. Ob ich das konnte, ich meine, ob ich dazu in der Lage war, ins Innere zu gelangen, war eine andere Frage. Da fiel mir ein, dass Andrea mit ihrem rechten Fuß den roten Pfeil berührt und damit offenbar einen Mechanismus ausgelöst hatte, der …
„Tun Sie es nicht!“, hörte ich hinter mir eine bekannte Stimme und drehte mich um. Da war er wieder – der Mann im dunklen Anzug und mit der Schlägermütze.
„Und warum nicht?“, fragte ich, erstaunt darüber, woher er wissen konnte, was ich vorhatte.
„Na, ich glaube nicht, dass Sie auf Nimmerwiedersehen im Reservat verschwinden möchten“, sagte er und verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. „Oder sind Sie etwa lebensmüde?“
„Natürlich nicht. Übrigens, was heißt Reservat?“
„Wissen Sie denn wirklich nicht, dass sich hinter der Mauer ein Reservat befindet?“
„Was für ein Reservat?“
„Das Reservat für Wüstenpflanzen und Wüstentiere, sozusagen als Ergänzung zum Botanischen Garten hinter dem Schloss.
„Woher wissen Sie das?“
„Ich gehöre zum Direktorium.“
Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Wer war dieser Mann und weshalb und wovor warnte er mich?
„Wenn das so ist, warum helfen Sie mir dann nicht, meine Schwester zu finden? Die ist nämlich gerade in Ihrem komischen Reservat verschwunden.“
„Da hat sie eben Pech gehabt.“
„Ich muss schon sagen, Ihre Hilfsbereitschaft kennt keine Grenzen.“
„Ach, machen Sie doch, was Sie wollen.“
Achselzuckend wandte er sich ab, trollte sich über die kleine Treppe zum Aasee hinunter und war wenigen Sekunden meinen Blicken entschwunden.
3
Jetzt endlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Es gab zwar keinen Schlüssel für das grüne Tor (jedenfalls hatte mir der Mann keinen gegeben), aber es gab den roten Pfeil, auf den Andrea, wenn auch vielleicht nur versehentlich, getreten und dadurch einen Mechanismus ausgelöst hatte, durch das das Tor geöffnet worden war. Auf diesem Weg wollte ich ihr folgen. Ich tat es und krachend fuhren die Torflügel auseinander. Es war, als würde ich von unsichtbaren Fäusten gepackt und durch die Öffnung ins Innere gezogen, dessen Physiognomie sich meinem Blick im Detail zunächst zu entziehen schien. Während sich der Sog verstärkte, sah ich nichts weiter als eine ebene Sandfläche, die sich nach allen Seiten endlos ausdehnte, was mir umso merkwürdiger vorkam, als ich mich ja gerade erst von der Maueröffnung entfernt hatte. Das einzige, was den Blick in dieser Einöde auf sich zog, waren ein paar schwarze Punkte, die am Horizont auftauchten und sich – langsam größer werdend – auf mich zuzubewegen schienen.
Einer der Punkte löste sich aus der Gruppe, nahm schnell an Größe zu und blieb, deutlich Gestalt annehmend, in einiger Entfernung von mir stehen. Das sah aus wie ein hölzerner Schlitten mit silbernen Kufen und war ein offenbar seiner Umgebung bestens angepasstes Fahrzeug, mit dem man mühelos über den Sand gleiten konnte. Auf dem Schlitten saß ein Mann in khakifarbener Uniform, die ihn erst auf den zweiten und dritten Blick einigermaßen kenntlich machte. Der Mann winkte mir heftig zu und rückte mit seinem Schlitten noch etwas näher, da ich zuerst nicht reagierte. Weiter gestikulierend rief er mir etwas zu, das ich nicht verstehen konnte. Seinen Zeichen war jedoch deutlich zu entnehmen, dass ich zu ihm kommen und mich hinter ihm auf den Schlitten setzen sollte.
Ich überlegte nicht lange. Im Grunde hatte ich keine andre Wahl, als der Aufforderung des Mannes zu folgen, denn ohne ihn hätte ich vollkommen ziellos in dieser mir unbekannten Gegend umherirren müssen. Kaum hatte ich mich gesetzt, fuhr der Schlitten los, erst langsam, dann steigerte er sein Tempo und schließlich begann er zu rasen. Ich suchte nach einem Halt und fand zwei an den Seiten des Schlittens befindliche Metallgriffe, an denen ich mich mit den Händen festhielt, was nicht verhinderte, dass ich manchmal vornüber oder nach hinten geschleudert wurde. Die rasende Fahrt löste die Konturen der wenigen sichtbaren Gegenstände auf und verwandelte den Sand in ein gelbes wogendes Meer. Schwarze Punkte näherten sich in großer Geschwindigkeit, nahmen Größe und Gestalt an und verschwanden wieder. Vermutlich waren es Schlitten wie der, auf dem der Mann in der Khakiuniform und ich saßen.
Einmal kam eines dieser Fahrzeuge so dicht zu uns heran (und fuhr in Sekundenschnelle vorbei), dass ich einen Moment glaubte, ein mir bekanntes Gesicht hinter dem Fahrer erkannt zu haben – war es das von Andrea? Sicher hatte ich mich getäuscht, denn höchstwahrscheinlich war nur der Wunsch Vater dieser Erscheinung gewesen und ich würde weiter hoffen und suchen müssen. Was ich aber jetzt deutlich erkannte, war der kleine grüne Kasten auf unserem Schlitten zwischen den Knien des Fahrers, den dieser mit mehreren Knöpfen und Hebeln bediente, um die Geschwindigkeit und Fahrtrichtung zu regeln. Offenbar eine Art Elektromotor, denn jedes Mal, wenn der Fahrer beschleunigte, bremste oder die Fahrtrichtung änderte, leuchtete ein kleines rotes Lämpchen auf dem grünen Kasten auf, das sicher wie der Motor von unsichtbaren Batterien betrieben wurde.
Die Bewegung ging fast geräuschlos vor sich, nur das leise Summen des Motors und das Knirschen des Sandes unter den Schlittenkufen begleiteten sie. Je weiter wir jedoch ins vermeintliche Innere dieser anscheinend endlosen Sandwüste eindrangen, desto stärker wurden die feinen Nebengeräusche, die uns umgaben, von der unaufhörlichen Bewegung des Windes überdeckt, dessen monotones Heulen vom Anfang der Dinge herzukommen schien, ohne an ihr Ende zu wollen: einförmig und vielstimmig zugleich – ein verhalten grollender manchmal aufbrüllender, aber immer verlässlich grundierender Basso continuo unserer Fahrt durch den Wüstensand.
4
Allmählich klärte sich meine nähere Umgebung auf und gewann schärfere Konturen. Kleine zierliche Lebewesen mit langen Beinen und rötlich weiß gesprenkeltem Fell setzten in großen Sprüngen neben unserem Gefährt her und manchmal über uns hinweg. Es waren Wüstenspringmäuse – eine bekannte Tierart, der man aber außerordentlich selten begegnet. Sie sprangen bis zu einem Meter hoch und stießen dabei gellende langgezogene Pfiffe aus. Sie schienen keine Angst vor uns zu haben, hielten uns aber offenbar für eine Art merkwürdiger Lebewesen, die hier im Grunde nichts zu suchen hatten. Nach einer Weile merkte ich, dass sie uns zwar begleiteten, aber nur zufällig und in Wirklichkeit einer großen Wellenbewegung im Sand unter ihnen folgten. Diese Bewegung wurde – wie ich erst nach mehrfachem und genauem Hinsehen feststellen konnte – von Riesenschlangen oder Riesensandwürmern erzeugt, deren Leiber meist unsichtbar und geräuschlos