Monica Wegmann

Das unheilvolle Niesen


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Es war Tom. Diesmal war es ganz besonders schlimm. Aber er ist kein böser Mensch. Im Gegenteil. Er kann so zärtlich und mitfühlend sein. Wenn er nicht getrunken hat, dann ist er genau der Mann, den ich immer wollte. Nur, wenn er Alkohol trinkt, wird er aggressiv. Zu Anfang hat er mich nur verbal verletzt. Wenn er wieder nüchtern war, hat er sich dann auch entschuldigt. Nur, sein Alkoholkonsum hat nach und nach zugenommen. Er wurde immer brutaler. Ich weiss nicht mehr, wann es war, dass er mich zum ersten Mal schlug. Hinterher hat es ihm immer leidgetan, und er machte es auf eine Art und Weise wieder gut, dass ich ihm nicht böse sein konnte. Im Gegenteil, ich hatte Mitleid mit ihm. Doch es geschah immer häufiger. Langsam wusste ich nicht mehr aus und ein, weil ich ihn immer noch liebe. Gestern Nachmittag dann habe ich ihn endlich zur Rede und vor die Wahl gestellt: ich oder der Alkohol! Er ist völlig ausgerastet. Er hat nicht aufgehört zu schlagen, bis ich nicht mehr aufstehen konnte. Dann ist er gegangen.»

      Ihre Tränen haben einen nassen Fleck auf dem Kopfkissen hinterlassen. In mir tobt ein Orkan. Ich sage kein Wort. Halte nur ihre Hand.

      Ich warte, dass ihre Tränen versiegen, sie Abschied von Tom nimmt. Nur ab und zu streiche ich ihr über das Haar. Endlich versiegen ihre Tränen, und sie versucht ein Lächeln: «Danke.»

      «Meinst du, dass du aufstehen kannst?» Sie nickt. «Dann ziehen wir dich jetzt an. Ich bringe dich von hier weg.» Wortlos steht sie auf und zieht sich an. Dann hakt sie sich bei mir ein. Diese Stütze braucht sie. Zu Hause angekommen, rufe ich zuerst im Geschäft an, dann bei der Fluggesellschaft. Ich will ihr die räumliche Distanz geben, die sie jetzt braucht. Sie liebt noch immer Tom.

      Doch mich mag sie auch. Das genügt mir fürs Erste. Ich werde alles daran setzen, zu verhindern, dass sie nochmals so gequält wird.

      ♦

      Das unheilvolle Niesen

      Morgen sollte er pensioniert werden. Hannes konnte sich jedoch immer noch nicht vorstellen, wie seine Tage dann aussehen würden. Er fürchtete sich vor dem Nichtstun. Vor all der vielen Zeit, die er haben würde. Allerdings war er auch ein bisschen stolz, denn er war der einzige Chauffeur der Firma Meier, der nie zu spät gekommen war, der nie krank gewesen war und der noch keinen einzigen Kratzer am Bus gemacht hatte. Jeden Abend sorgte er dafür, dass sein Juwel innen und aussen gereinigt wurde, ja er wachte mit Argusaugen über der Putzequipe, dass auch ja kein Stäubchen übrig blieb.

      Seit dreissig Jahren fuhr er schon für diese Firma. Seine grosse, imposante Gestalt mit den breiten Schultern, den kräftigen Armen, den tellergrossen Händen und seinem kantigen, von schneeweissem Haar umrahmten Gesicht, war Teil des Städtchens geworden, so wie der Bäcker, der Metzger oder der Apotheker. Zu seinem Aufgabenbereich gehörten, unter anderem auch, die Fahrten mit dem Schulbus, und er freute sich, im Gegensatz zu seinen Arbeitskollegen, auf die Fahrten mit den Schulkindern. Er liebte es, wenn sie aufgedreht waren, sich gegenseitig Scherze zuriefen und dann ausgelassen lachten. Hannes hatte schon deren Eltern zur Schule und wieder nach Hause gebracht, und für die Leute im Städtchen gehörte er ganz einfach zum Inventar der Firma Meier.

      Diesen Tag vor seiner Pensionierung hätte er jedoch gerne ausgelöscht. Schon beim Aufwachen fing alles an. Er hatte verschlafen! Zuerst dachte er an einen schlechten Traum. Doch als er nochmals auf den Wecker schaute, war es genau fünf Minuten vor Dienstantritt! Er schoss aus dem Bett und stürzte ins Badezimmer, wobei er fürchterlich mit der rechten grossen Zehe an der Türschwelle aufschlug. Er fluchte still, ohne Worte. Schnell seifte er sich ein, nahm den Rasierer und schnitt sich mindestens fünfmal, da er immer wieder niesen musste. Wo war der verflixte Blutstiller? Er durchforstete sämtliche Schubladen und fand ihn dann genau dort, wo er eigentlich hingehörte. In Windeseile putzte er sich die Zähne, nahm das Zahnputzglas, und es zerschellte im Lavabo! Er liess es liegen und verliess fluchtartig das Haus.

      Er holte den Bus aus der Garage und schaffte es, mit nur zehnminütiger Verspätung an der ersten Haltestelle anzukommen. Die Kinder waren ausgelassen und freuten sich über die geschenkte Zeit. Schwatzend und lachend stürmten sie in den Bus. Erst jetzt bemerkte Hannes wie sehr ihm der Kopf dröhnte, und er wollte die Kinder bitten, leiser zu sein, doch ausser einem heiseren, undefinierbaren Ton kam nichts über seine Lippen. Wie immer riefen ihm die Kinder Witze und Scherze zu und verstanden nicht, weshalb er nicht darauf reagierte.

      Hannes Augen tränten, und die Nase lief. Und dann passierte es: Hannes musste dermassen stark niesen, dass Arme und Beine unkontrolliert zuckten. Dabei stiess er mit dem Fuss hart auf das Bremspedal, und gleichzeitig machten die Hände eine ruckartige Bewegung nach rechts. Der Bus kam ins Schleudern und geriet in die Böschung. So stark Hannes konnte, drückte er auf die Bremsen, doch es reichte nicht mehr ganz, und er fuhr in die grosse Linde. Durch den Ruck wurden die Kinder nach vorne geschleudert und verhedderten sich zu einem Knäuel aus Armen und Beinen. Hannes, einerseits wütend auf sich, andererseits verzweifelt über das Unglück, half den Kindern wieder auf die Beine. Dann schickte er sie hinaus und vergewisserte sich, dass auch nichts Schlimmes passiert war. Jetzt erst fiel es den Kindern auf, dass er vor lauter Heiserkeit nicht sprechen konnte. Die Kinder riefen aufgeregt durcheinander und fanden das Ganze geil, super oder mega. Hannes wurde jetzt von einem starken Hustenanfall durchgeschüttelt, und zu allem bekam er auch noch Fieberschübe. Er sah noch die eingedrückte Schnauze des Busses, dann wurde ihm schwarz vor Augen, und er musste sich setzen. Thomy, der aufgeweckte kleine Junge, fragte ihn, ob man jetzt die Polizei rufen solle, so wie im Fernsehen. Thomy sagte, er könne dies tun, denn er habe sein Mobile dabei. Hannes wünschte sich nichts mehr, als die Verantwortung abzugeben, und nickte müde mit dem Kopf.

      Schon bald war die Polizei da. Sie informierte die Firma Meier, die auch sofort einen anderen Bus schickte. Hannes hingegen wurde nun von immer heftigeren Fieberschüben geplagt, und so brachte ihn die Polizei nach Hause. An der Feier zu seiner Pensionierung am nächsten Tag konnte er nicht teilhaben.

      Zwei Wochen später, Hannes ging es inzwischen wieder gut, rief ihn Sekretärin seiner Firma an und bat ihn, am nächsten Tag um zwei Uhr ins Büro zu kommen. Worum es sich dabei handelte, wollte sie ihm nicht verraten. Wie er dann ins Büro kam, waren dort alle Mitarbeiter versammelt, das heisst jene, die nicht gerade Dienst hatten, unglaublich viele Schulkinder, der Schulpräsident und der Chef persönlich. Und alle riefen: «Hipp, hipp, hurra, der Hannes ist da!» Dieser blieb betroffen und verunsichert stehen, doch die Sekretärin bahnte sich ein Weg zu ihm durch und lotste ihn dann zum Chef. Dann bat sie um Aufmerksamkeit, da der Chef was Wichtiges zu sagen habe. «Lieber Hannes, liebe Mitarbeiter, geehrter Herr Schulpräsident, liebe Kinder», begann er: «Heute feiern wir einen Mann, der genau neunundzwanzig Jahre, elf Monate und dreissig Tage unfallfrei gefahren ist. Genauso lange war er nie krank und kam nie zu spät. Und dann hat er an einem Tag alles auf einmal aufgeholt. Dies, muss ich gestehen, ist der absolute Rekord und wird für uns alle ein denkwürdiger Tag bleiben. Da er eine Bestleistung und zugleich seine Pensionierung zu feiern hat, haben wir uns überlegt, wie wir ihm ein würdiges Dienstaustrittsgeschenk machen können. Da der Hannes und der Bus quasi eins waren, sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass auch der Bus in den Ruhestand versetzt werden muss. Ebenfalls beschlossen wir, dass, wenn schon Hannes den Kindern weggenommen wird, wenigsten der Bus erhalten bleibt. Die Firma Meier hat sich mit dem Schulpräsidenten geeinigt, dass der Bus auf dem Spielplatz vor der Schule aufgestellt wird und den Kindern zur Verfügung steht, als Zeichen der Erinnerung an einen Chauffeur, der von allen Kindern geliebt wurde. Und nun wollen wir schauen, was die Jugendlichen aus ihm gemacht haben.»

      Alle verliessen das Büro, der Chef mit Hannes vorab, und machten sich auf den Weg zum Spielplatz. Da stand er, der Bus mit seiner eingedrückten Nase. Die Kinder hatten ihn aussen bunt angemalt, und an der Stirnseite des Busses stand in grossen Lettern: «Hannes Stübchen.» Innen hatten die Kinder aus den Bänken und mit Brettern ein wirkliches Kämmerchen geschaffen.

      Er war wunderschön und das schönste Geschenk, das man ihm zur Pensionierung machen konnte. Als die Kinder dann auch noch sagten: «Gell, Hannes, jetzt kommst du ab und zu vorbei, damit wir wieder mit dir Spass haben», füllten sich Hannes Augen mit Tränen.

      Diesmal war es jedoch nicht die Erkältung…

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      Ich weine und lache