Alfred Bekker

Liebe und Schicksal im Adelshaus: 6 Romane Sammelband


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gingen sie auf das große Portal zu.

      Als sie die Stufen hinaufschritten, blickte Susanne noch einmal kurz zurück zum Turm.

      18

      Am nächsten Morgen fuhr Wilfried bereits früh in die Stadt.

      Er hatte einen Termin bei einem Notar. Es ging um den Verkauf eines Landstücks. Wilfried hatte nicht viel Zeit. Beim Frühstück erläuterte er Susanne knapp, worum es ging.

      Susanne hörte kaum zu.

      Schließlich nahm Wilfried ihre Hand und sagte: "Tu mir einen Gefallen, Susanne."

      "Und der wäre?"

      "Komm nicht wieder auf den Gedanken, den Turm auf eigene Faust zu erforschen. Ein Schloss wie dieses ist ein Anwesen, dass nur mit großem Aufwand erhalten werden kann. Ständig ist irgendetwas zu renovieren oder in Stand zu setzen. Der Zahn der Zeit nagt manchmal schneller, als man dagegen an arbeiten kann. Der Turm ist nicht umsonst abgeschlossen. Es ist gefährlich da drinnen. Aber das hast du ja wohl gemerkt..."

      "Ja."

      "Ich hatte bereits mehrfach mit Vater über die Renovierung der Turmtreppen gesprochen, aber fürs erste hatten andere Dinge Vorrang. Ich werde mich allerdings jetzt schnellstmöglich darum kümmern..."

      Wilfried musste dann ziemlich eilig aufbrechen. Susanne frühstückte allein zu Ende.

      Als Johann die Gedecke abräumte, fragte sie: "Haben Sie eine Ahnung, wo Nadine ist?"

      Johann sah sie etwas verwundert an und schüttelte dann den Kopf.

      "Nein, tut mir leid. Ich denke, sie wird mit den Zimmern beschäftigt sein."

      "Wenn Sie sie sehen, dann richten sie ihr doch bitte aus, dass ich sie unbedingt sprechen muss."

      "Sehr wohl, Baroness Susanne. Sind Sie mit irgendetwas nicht zufrieden oder was ist der Anlass dieser Bitte?"

      "Nein, nein... ganz im Gegenteil."

      Bis zum Mittag begegnete Susanne dem Zimmermädchen nicht.

      Fast hatte sie den Eindruck, dass Nadine ihr regelrecht aus dem Weg ging. Einmal sah sie sie kurz um eine Flurecke huschen.

      Schließlich sah Susanne das Zimmermädchen dann, als sie von einem kleinen Spaziergang zurückkehrte. Sie kam gerade die Stufen des Portals hinunter und hielt mitten in der Bewegung inne, als sie Susanne bemerkte. Aber jetzt konnte Nadine nicht zurück. Das wäre zu offensichtlich gewesen. Sie trat die Stufen hinab. Wahrscheinlich hatte sie jetzt Pause und wollte zu ihrer Unterkunft in einem der Nebengebäude.

      Sie grüßte die Baroness knapp und strebte dann genau dorthin.

      "Nadine! So warten Sie doch!", rief Susanne.

      Nadine blieb stehen.

      Sie drehte sich etwas zögernd herum.

      Es dauerte einige Augenblicke, bis Susanne das Zimmermädchen erreicht hatte. Dieses wich den Blicken der Baroness aus.

      "Nadine, ich bitte Sie: Sagen Sie mir jetzt, was Sie gestern Nacht im Turm von mir wollten."

      "Im Turm?", erwiderte sie.

      "Wir sollten das Versteckspiel aufgeben. Ich habe mir dort beinahe den Hals gebrochen... Und wenn Wilfried nicht gekommen wäre, um..."

      "Verzeihen Sie, Baroness, aber ich weiß nicht, wovon Sie sprechen."

      "Aber Sie haben mir doch einen Brief zukommen lassen und unter der Tür meiner Suite hindurchgeschoben!"

      "Tut mir leid, das muss ein Irrtum sein!"

      Susanne sah ihr Gegenüber vollkommen fassungslos an. "Soll das heißen, Sie leugnen, sich mit mir gestern Nacht verabredet zu haben!"

      "Natürlich leugne ich das! Warum sollte ich das auch tun? Es ist Wahnsinn, den baufälligen Turm bei Nacht zu betreten. Schon am Tag dürfte es gefährlich genug sein. Was glauben Sie, warum die Türen verschlossen sind?"

      Die Blicke der beiden jungen Frauen begegneten sich.

      Am liebsten hätte Susanne ihr jetzt den Brief präsentiert.

      Aber das war ja nicht mehr möglich, denn der befand sich jetzt irgendwo im Turm.

      "Es tut mir wirklich leid, Baroness, aber sie müssen sich irren. Ich habe mich niemals mit Ihnen dort treffen wollen und Ihnen auch keinerlei Briefe geschrieben..."

      "Aber..."

      "...und wenn Sie ansonsten keinen Wunsch an mich haben, dann bitte ich Sie, mich jetzt zu entschuldigen..."

      Susanne sah Nadine noch einige Augenblicke mehr oder minder fassungslos nach, während das Zimmermädchen davonging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Nadine beschleunigte ihren Schritt noch etwas.

      Was geht hier nur vor sich?, fragte sich Susanne. Wollte ihr jemand einen üblen Streich spielen.

      Sie wandte sich noch einmal dem Turm zu.

      Und dann entschloss sie sich dazu, sich einmal bei Tageslicht anzusehen, wo sie in der Nacht gewesen war. Sie lief zum Turm, stieg die äußere Treppe hinauf. Es dauerte nicht lange, bis sie die obere Brustwehr erreicht hatte.

      Susanne sah sich um. Sie fand alles so vor wie in der letzten Nacht.

      Mit einem einzigen Unterschied.

      Die Tür, die ins Innere des Turms hinabführte, war verschlossen.

      Die Erinnerungen der letzten Nacht erschienen Susanne mit einem Mal so unwirklich. Was war wirklich geschehen?

      Ich habe doch mit ihr gesprochen!, durchzuckte es sie.

      Aber was hatte sie wirklich gehört, außer einem undeutlichen Flüstern. Sie hatte geglaubt, Nadines Stimme zu hören - aber konnte es nicht auch jemand anderes gewesen sein?

      Das ist absurd!, sagte sie sich selbst.

      Noch ein anderer Gedanke kam ihr und begann, an ihrer Seele zu nagen.

      Alle außer mir wissen, was mit den Treppen im Turm los ist!, durchfuhr es sie wie ein Blitz. Was, wenn man mich absichtlich dorthin gelockt hat?

      Susanne hatte ein Gefühl, als ob sich eine eiskalte Hand um ihr Herz legte und es nicht wieder losließ.

      19

      Am Nachmittag begleitete Susanne die Fürstin auf dem Flügel.

      Fürstin Margarethe spielte Violine und war hoch erfreut, jemanden gefunden zu haben, der mit ihr musizierte.

      Die Fürstin hatte extra ein einfacheres Stück ausgesucht und so gelang das Zusammenspiel recht gut. Während des Musizierens war Susanne von ihren düsteren Gedanken abgelenkt. Und das tat ihr gut.

      "Ich muss sagen, es hat mir große Freude gemacht, mit Ihnen zu musizieren, Susanne", ließ sich Fürstin Margarethe anschließend vernehmen, während sie seufzend die Violine wieder an ihren Ort hing.

      "Mir geht es umgekehrt genauso..."

      "Ich würde das gerne bei Gelegenheit wiederholen, Susanne."

      "Gerne."

      Die Fürstin sah die junge Baroness fragend an. "Sie sehen etwas abgespannt aus, Susanne..."

      "Das muss das Wetter sein..."

      "Möglich. Nun, die bevorstehende Verlobung wird Sie sicher auch gedanklich nicht loslassen. Mir geht das zumindest so, schließlich habe ich nur einen Sohn. Mehr Kinder sind uns leider nicht vergönnt gewesen."

      Susanne hob den Kopf.

      Ihr Blick traf sich mit dem ihrer zukünftigen Schwiegermutter. Eine entschlossene, entscheidungsfreudige Frau, überlegte Susanne. Sie war es gewohnt, Anweisungen zu