ein wenig zappeln zu lassen und erst in ein paar Tagen Kontakt zu ihm aufzunehmen. Du weißt ja, Geduld ist ein rasender aber verlässlicher Baumeister, oder so. Und wir wollen doch, dass dein Verehrer keinen Verdacht schöpft und im letzten Moment noch von der Schippe springt.“
Ralph fummelte nochmals an seiner Krawatte herum und schlüpfte in seine Schuhe. Dann positionierte er sich in selbstbewusster Manier vor Simone.
„Und, wie sehe ich aus?“
„Wie jemand, der mit Sicherheit die Stelle bekommen wird. Auch wenn er ausnahmsweise kein Boss Hemd trägt, mein Schatz“, antwortete sie lächelnd und musterte ihn dabei von oben bis unten.
„Genau das wollte ich hören.“
Er griff nach seinem Zündschlüssel und drehte sich nochmals zu ihr um.
„Ich glaube heute ist ein guter Tag. Wird auch Zeit.“ Dann ließ er die Tür hinter sich in das Schloss fallen und machte sich auf den Weg.
BERICHT 4
Montag, 3. Juli, 11: 24 Uhr
Ordnung ist das halbe Leben
Lydia wirkte angespannt. Nachdem sie noch einige Sachen in der Stadt erledigt hatte, fuhr sie mit der Straßenbahn zum wöchentlichen Klatsch und Tratsch in das Café Traxlmayr. Sie zappelte im Abteil hin und her und ihre Finger malträtierten den Haltegriff im Sekundentakt. Nicht etwa, dass es eine unruhige Fahrt gewesen wäre. Nein, die Ursache für ihre Nervosität lag vielmehr im Ablaufdatum ihres Fahrausweises begründet. Soeben hatte sie ihn aus der Handtasche geholt und festgestellt, dass dieser seine Gültigkeit bereits vor zwei Tagen verloren hatte.
Normalerweise achtete sie penibel genau auf solche Sachen. Sie wusste bis zu welchem Datum Erlagscheine einbezahlt werden mussten. Sie wusste punktgenau die Befristung der Rabattgutscheine vom Supermarkt. Ja, sie wusste sogar das Ablaufdatum der Milch im Kühlschrank. Aber an das Ablaufdatum des Fahrscheins hatte sie diesmal nicht gedacht.
Und so war sie momentan das, was man gemeinhin als Schwarzfahrerin bezeichnete. Und wenn man sie dabei auch noch erwischen würde, dann wäre sie überdies eine dumme Schwarzfahrerin. Und wie es mit dummen Schwarzfahrerinnen so war, hatten diese für ihren Verstoß zu bezahlen. Und zwar in zweierlei Hinsicht.
Einerseits in Form einer satten Geldstrafe von siebzig Euro, die beim Ertappen schlagend gemacht würden. Der finanzielle Aspekt jedoch war Lydia in dieser Situation völlig gleichgültig. Das drohende Bußgeld würde sie sofort berappen und es ungesehen in der Kategorie der Nebensächlichkeiten verbuchen. Geld war hier nicht das Problem für sie. Außerdem hätte sie es ohnedies von Edgars Konto abbuchen lassen.
Was ihr in diesem Moment weitaus mehr zu schaffen machte war der soziale Aspekt ihrer Handlung. Nicht auszudenken, würde sie wirklich gestellt werden. Dieses öffentliche Stigma, diese Scham. Alle Augenpaare wären auf sie gerichtet und jeder würde sie sofort als durchtriebene Betrügerin abqualifizieren. Man würde hinter vorgehaltener Hand über ihre Dreistigkeit reden. Mit dem Finger würde auf sie gezeigt werden. Als laboriere sie an einer ansteckenden Krankheit.
Gerade sie, eine gestandene Mutter von zwei Kindern, die ihr Leben lang nie mit dem Gesetz konfrontiert war. Sie, die noch nie in Verlegenheit geraten war, sich für irgendeine Straftat verantworten zu müssen. Sie war weder eine Diebin noch misshandelte sie ihre Kinder. Sie rauchte nicht an den Bahnsteigen. Sie gurtete sich immer an. Sie zahlte die Fernsehgebühren ordnungsgemäß und hatte noch nie gegen eine Hausmauer gepinkelt. Wie auch? Sie hatte noch nicht einmal den nötigen Rausch dazu.
Alles in allem also war Lydia das, was man eine sozialisierte Vollblutmutter nannte. Eine moralische Instanz, die innerhalb der Familie die Regeln aufstellte und genau zu wissen glaubte, was das Beste für jeden sei. Wenn sie die Order ausgab, die Schlafenszeit der Kinder sei sieben Uhr, dann war das so. Es hatte zu geschehen. Ansonsten: Regelverstoß!
Wenn sie der Meinung war, das Schlafzimmer gehöre mit der neuesten Trendfarbe ausgemalt, dann musste angerückt und gestrichen werden. Ansonsten: Regelverstoß!
Wenn sie die Auffassung vertrat, die Bettdecken müssten längs und nicht quer auf dem Bett liegen, dann war das Gesetz, das es zu befolgen galt. Ansonsten: Regelverstoß!
Und wenn sie die Anwandlung hatte, sie bügle fortan nur noch ihre Kleider, dann hatte Edgar das Bügeleisen selbst zu schwingen. Ansonsten: Knitterhemden!
Doch jetzt befand gerade sie, die Hüterin des Regelwerks, sich selbst in einem Dilemma. Sie befand sich in der misslichen Lage selbst gegen eine Regel verstoßen zu haben. Zum Glück hatte sie nur noch drei Haltestellen zu überstehen. Und die Wahrscheinlichkeit einer Kontrolle war in dieser Linie ohnedies eher gering. Also würde sie die nächsten paar Minuten die Einstiege noch genau im Auge behalten. In der Hoffnung, dass zwischenzeitlich kein unliebsamer Fahrgast mit einer Marke das Abteil betreten würde. Dann würde sich am Ende alles in Wohlgefallen auflösen. Niemand würde ihren Übertritt bemerkt haben und sie konnte den ganzen unliebsamen Vorfall getrost zu den Akten legen.
Und für die nächsten beiden Haltestellen hatte es auch beinahe den Anschein, als würde sie ungeschoren davonkommen. Die einzig zugestiegenen Fahrgäste waren Passanten, Touristen oder betrunkene Schichtarbeiter auf dem Heimweg. Aber weit und breit keine Spur von einem Kontrollorgan. Es blieb ruhig. Zumindest vorerst noch. Doch dann kam alles ganz anders und offensichtliches Unbehagen setzte bei Lydia ein. Sie sah aus ihrem Augenwinkel heraus gerade noch zwei verdächtige Gestalten mit einem Hängetäschchen in das Abteil huschen. Sofort schrillten ihre Alarmsensoren auf.
„Jetzt haben wir den Salat“, schoss es ihr durch den Kopf.
Ihr Hals wurde länger und länger und ihre Blicke suchten über die anderen Fahrgäste hinweg fieberhaft im ganzen Abteil herum. Und da standen die beiden schon in einiger Distanz. In der rechten Hand ihre Marke und in der Linken das Scangerät. Sie wollten gerade einen Betrunkenen überprüfen, der lautstark gegen diese Kontrolle protestierte.
„Macht es Euch Spaß unschuldige Steuerzahler zu piesacken und zu provozieren?“, machte er sichtlich angeschlagen seiner Entrüstung Luft.
„Habt Ihr etwa Minderwertigkeitskomplexe, weil Ihr diesen Job macht? Oder reicht Euer Intelligenzquotient für einen anderen Beruf nicht aus?“
Sie lauschte angespannt mit und blickte immer wieder panisch aus dem Fenster. Doch die letzte Haltestelle lag noch ein Stück weit entfernt.
„So, hier habt Ihr das beschissene Ticket. Und jetzt lasst mich gefälligst in Ruhe, Ihr Penner!“
Er zog den Fahrausweis aus der Jackentasche und warf den beiden Kontrolleuren einen verächtlichen Blick zu.
„Noch so eine Beleidigung und Sie haben ein massives Problem“, meldete sich nun einer der beiden zu Wort, „und außerdem ist Ihr Fahrschein ungültig. Sie hätten bereits vor zwei Haltestellen aussteigen müssen. Ihr Ticket ist nur bis zur Goethekreuzung gelöst worden.“
Bei diesen Worten zückte der andere Kontrolleur auch schon seinen Scanner und begann zu tippen. Das war ihre Chance. Jetzt waren beide abgelenkt. Sie ging etwas in die Hocke und machte sich nach und nach immer kleiner. Bis sie auf Gürtelhöhe der Fahrgäste war. So mancher unter ihnen senkte den Blick und sah sie beinahe entwürdigend an. Ihr war, als könnten sie allesamt in fettgedruckten Lettern Schwarzfahrerin über ihrem Kopf lesen. Was für ein demütigendes Bild musste sie gerade abgeben. Doch was hätte sie tun sollen? Lauthals zugeben, dass sie keinen gültigen Fahrschein hatte? Undenkbar! Geduckt wie eine Eingeborene auf der Pirsch, drängte sie sich weiter zurück durch die Menge in Richtung Ausstieg. Immer wieder blieb sie mit ihrer Tasche dabei irgendwo hängen, dass diese unkontrolliert hin und her schwang. Dass sie noch immer halb geöffnet war, bemerkte sie gar nicht. Doch sie hätte in diesem Moment wahrscheinlich nicht einmal einen gelben Dinosaurier mit Nickelbrille direkt vor ihr bemerkt. Zu sehr war sie mit sich selbst beschäftigt. Plötzlich verlangsamte sich das Tempo der Straßenbahn. Jetzt musste es schnell gehen. Sie drückte den Halteknopf. Die Straßenbahn blieb stehen. Die Türe öffnete sich und sie betrat endlich wieder sicheren