Martin C Roos

Zwei Räder, ein Land


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unterwegs, zur Kurve vor dem Biohof. Hinter der Kurve parkt ein Lieferwagen und »PloppPloppPloppPlopp« hängen die Radfahrer wie Fliegen hinten auf der Wagenrückseite.

      Klingt spannend, sage ich, wir trennen uns ohne Gruß. Ich freue mich, das Blockland bis zum Ende an der Weser für mich allein zu haben. Bei Kilometer elf habe ich den ersten und einzigen Anstieg im Lande Bremen zu bewältigen, zwei Höhenmeter, ein Bahnübergang. Die Wümme ist inzwischen in der Lesum aufgegangen, sie hat einen gut befahrbaren Deich. Nach und nach nimmt die Zahl der vertäuten Boote zu. Erst fahre ich links, dann rechts der Lesum, passiere den kleinen Yachthafen und bin in Vegesack.

      Nächste Überfahrt 7.15 Uhr, heißt es auf der Leuchtanzeige an der Weser. Die Fähre teile ich mir mit fünf torkelnden Männern und drei Autos, deren Fahrerinnen und Fahrer hoffentlich nüchtern sind. Obwohl mir zum dritten Mal auf meiner Deutschlandfahrt die Einreise nach Niedersachsen bevorsteht, fühle ich mich erleichtert. Der burschikose Kassierer verbreitet bessere Laune als das mürrische Personal am Hamburger Zollenspieker. Außerdem kostet die Überfahrt nur etwa halb so viel wie über die Elbe. Erleichtert bin ich, weil es von nun an schnurstracks nach Süden geht. Ich brauche dringend Berge. Auf den Wind, dem ich gestern gen West entgegenfuhr und heute gen Süd, würde ich verzichten. Aber was sollen die Klagen? Dieser 2. Juni wird der erste heiße Tag sein im Norden der Republik. Am Dümmer, Niedersachsens zweitgrößtem See, erwartet mich Badewetter – zum Vergnügen – und eine Dorfhelferin zum Interview.

       Mit 86 durch Deutschland

      Gemeint ist das Gewicht. Es setzt sich aus den 66 Kilogramm meiner selbst und den 20 Kilogramm des vollständig bepackten Fahrrads zusammen. Die Hälfte dieser 20 Kilogramm verteilt sich auf die Ausrüstung:

      2,2 kg Flüssigkeiten und 3,4 kg Radausstattung, u.a. mit der Analogkamera am Lenker, sowie die 4,4 kg des SaddlePack. Was sich darin und sonst am Rad für Utensilien befinden, habe ich hier aufgeschlüsselt (Foto tinyurl.com/alle16d):

      • Frühstück: Tauchsieder, Becher, Handdruck-Espressogerät, Siebträgertauglicher Arabica; flache Schüssel zum Anrühren der Notration (s.u.); Teebeutel.

      • Radkluft: Gut sichtbare Handschuhe & Socken. Weste und Armlinge.

      • Radunterwäsche, Radhose, zwei Trikots, Stirnband.

      • Regen-/Wind-Ausrüstung: Ultraleichtjacke, GoreTex-Jacke und -Shorts, NoRain-Knielinge, Überschuhe, Helmüberzug, Schirmmütze.

      • Flaschen befinden sich zwei am Rad, erstens eine 1-Liter-Thermosflasche (heiß/kalt befüllbar) und zweitens eine Box bestückt mit Pumpe, Ersatzschlauch, üblichem Notwerkzeug sowie Ventil-Adapter, um sich an Tankstellen Luft zu genehmigen. Drittens mit von der Partie, im Hüftgurt: zwei Flaschen à 600 Milliliter.

      • Abendkluft: T-Shirt, Jeans, 130-Gramm-Barfußschuhe.

      • Elektronik: Smartphone, zusätzlich GPS-Gerät; PowerBank mit mindestens 30 Wattstunden, Ladestecker mit zwei USB-Kabel-Eingängen.

      • Analog: Nikon FM2 und acht Ilford Delta 400 ›Professional Black&White Film‹ (dafür vorfrankierte Einsendeumschläge).

      • Sicherheit (s.a. ›Flaschen‹): Pocket-Kabelschloss, Radbeleuchtung, Straßenkarte 1: 850.000, ISBN 9783961320004.

      • Notrationen: Haferflocken, Mandelmilchpulver, Isomaltulose-Riegel und -Getränkepulver, Baobab-Fruchtpulver, 50 ml Olivenöl, Salz; etwas Duschgel, um sich und die Radklamotten zu waschen.

      • Neben frei erhältlicher Schmerzmedikation: rezeptpflichtiges Novaminsulfon (= Metamizol); ein Magnesiumpräparat für die Muskeln.

      • Taschen: SaddlePack, auf den sich bei Bedarf ein Säckchen auf-schnallen lässt (Spannbänder nicht vergessen); lenkernahes Täschchen für die PowerBank; wasserdichte Smartphone- sowie Kamera-Hülle.

      Auf der Wesersüdseite öffnet soeben Bäckerei Meyer – Chance für ein zweites Frühstück. Kauend hocke ich auf dem Treppchen zur Bäckerei. Ein alter Mann mit Seemannsbart und Cowboyjeans schlendert heran. Mit stoischer Miene und routinierter Gelassenheit deponiert er seine brennende Zigarette an den Rand einer Stufe, solange er Brötchen kauft.

      So einen gemächlichen Alltag könnte ich brauchen. Meiner besteht bis heute, Etappe vier, aus ewigem Stop-and-Go: Ich halte an für eine Notiz, fahre für zwei Minuten, halte für ein Foto, fahre weiter. Das laugt aus und spornt mich heute an, auf eine Stunde alles Recherchieren zu pausieren. Die Bedingungen um 8.30 Uhr sind optimal: 19 Grad Celsius hat die Luft und die Gegend schicke Sträßchen. Bis Schierbrok kurve ich auf dem ›Seemannsweg‹ durch lichte Siedlungen und offenes Land. Einmal halte ich auf 25 Kilometern: Vor Ganderkesee ist der einsame weißblaue ›Condomat‹ vor dichtem Buschwerk ein zu verlockendes Fotomotiv.

      9.25 Uhr. Hinter Havekost sinkt meine Stimmung. Am auflebenden Gegenwind liegt es nicht. Der Stimmungsknick kommt wegen einer Straße und wegen eines Anrufs, der mich dort ereilt. Die Straße hört auf den Namen B213, ist bis Wildeshausen stark befahren und ohne Alternative. Das Telefon klingelt, aber ich halte erst in Wildeshausen, um zurückzurufen. Es ist der Kreisverband Melle, Deutsches Rotes Kreuz. Der Verband hat eine Stiftung, die Bedürftigen hilft. Ich wollte in Melle ehrenamtliche Besuchs- und Pflegehilfer*innen befragen. Nun erhalte ich eine Absage: »Wir befinden uns in einer Umbruchphase und müssen von Ihrer Anfrage Abstand nehmen.« Schade. Das Thema Ehrenamt hatte mich über Wochen beschäftigt. »Ohne Ehrenamt« so eine amtliche Verlautbarung »ist unsere Gesellschaft überhaupt nicht zu denken, sei es im Sport, bei der Arbeit mit Behinderten, im Naturschutz – in allen Bereichen des öffentlichen Lebens«. Ich hatte einen niedersächsischen Reitverein kontaktiert, der mir durch zwei Transparente aufgefallen war. Aufschrift Nummer eins lautete ›Rettet das Ehrenamt‹. Gab es in Deutschland tatsächlich Nachwuchsprobleme? Die zweite Aufschrift gab mir vollends Rätsel auf: ›Mit Reiten gegen Formalismus!‹ Ich hatte an den Reit- und Fahrverein Isernhagen mehrere Emails geschickt und einen Brief, den ich Wochen später nochmals per Fax versandte. Keine Antwort. Doch Wildeshausen, wo ich nach B213 und der DRK-Absage erschlafft am Straßenrand kauere, bringt mir unverhofft etwas Gutes: einen Anruf aus Isernhagen. Eugen Klein entschuldigt sich für die späte Rückmeldung. Dann zieht der 2. Vorsitzende des Reitvereins vom Leder: Das mit dem Ehrenamt in Deutschland laufe alles andere als traumhaft, sondern eher alptraumhaft – speziell in Niedersachsen, moniert der hauptberufliche Rechtsanwalt. Er beklagt den bornierten Fleiß des Landesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit: »Die Tätigkeitsbereiche der Ehrenämtler müssen immer weiter professionalisiert werden. Um zum Beispiel bei einem Reiterfest Hausgemachtes auszuschenken, braucht es jedes Mal formale Genehmigungen. Bewilligt werden muss sogar, wenn wir bei einem Fest mit den Pferden die Straße queren möchten.« Bald, so fürchtet die Vereinsleitung, mag sich niemand mehr die große Mühe machen für diese kleinen Veranstaltungen.

      Nach Telefonat und Gedächtnisprotokoll verlasse ich eilends den ungemütlichen Telefonposten am Straßenrand, um einen guten Rastplatz zu suchen. Ich finde ihn beim Verein ›Jesus Zentrum‹. Er hat bei Tageskilometer 60 ein Gemeindehaus, drinnen probt ein Chor. Auf der anderen Straßenseite lockt der Schatten eines Picknickplatzes. Ich sehne mich nach einem Nickerchen. Doch kaum bin ich auf schattiger Holzbank gebettet, schellt erneut das Telefon. Ich erhalte eine weitere Absage.

      Vierzig Kilometer weiter von hier, am Dümmer, hatte ich mich für den Nachmittag mit einer Dorfhelferin verabredet. Diesen Beruf gibt es in nur wenigen Bundesländern. Ich will wissen, was dahintersteckt. Im Sozialen muss Niedersachsen sich mehr Sorgen machen als andere Länder. Demographen rechnen vor, die Einwohnerzahl werde in den nächsten Dekaden um eine halbe Million schrumpfen. Halbwegs stabil war die Zahl bislang nur durch Zuwanderung, denn die Geburtenziffer pro Frau beträgt nur 1,6. Eine Ziffer von 2,1 Kindern pro Frau wäre nötig für Stabilität, aber das hatte Niedersachsen zuletzt im Jahr 1971.

      Die Helferin aus Hüde erklärt am Telefon, für eine erkrankte Kollegin einzuspringen – ob ich nicht morgen könne. Nein, erkläre ich, da verlasse ich bereits Niedersachsen. Wir beenden unser Telefonat, ich bin frustriert, meines engen Zeitkorsetts wegen, das wenig Flexibilität zulässt. Und heute ist erst der vierte von 24 Fahrtagen. Zunehmender Schlafmangel