Grégoire Delacourt

Die vier Jahreszeiten des Sommers


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Ende des Gartens, und ich musste aus dem Wasser steigen, um ihn zu holen. Sie sah mir lachend zu, und ich sprang sofort wieder mit einer riesigen Fontäne in den Pool, um sie zu beeindrucken. Sie verdrehte die Augen, mit einem schon so weiblichen Überdruss. Ihre Augen waren gerötet, wie von Frauen, die viel weinen. Von Frauen, die sich verlieren werden. Ihre lockigen nassen Haare lagen wie ein Kranz auf ihrer Stirn.

      Sie war meine Prinzessin.

      »Irgendwann darfst du mich küssen«, flüsterte sie mir eines Nachmittags zu, dann schwamm sie zur Leiter, hinter sich ein Lichtstreifen.

      Wir lagen nebeneinander auf den Holzplatten, die das Becken umgaben, und ließen uns von den Sonnenstrahlen trocknen. Sie trug einen Bikini, das hübsche Oberteil verbarg zwei sanfte Wölbungen, und wenn sie es auszog, um ihr Kleid wieder überzustreifen, befahl sie mir, mich umzudrehen, und ließ mich schwören, nicht hinzusehen. Sonst bringe ich dich um und werde dich mein Leben lang hassen. Ich lachte laut, und mein Lachen ärgerte sie, sie floh und ließ mich allein im Garten zurück. Unser Eden.

      Da, wo die Schlange lauert.

      Meine Mutter machte sich Sorgen.

      Es wäre ihr lieber gewesen, wenn ich meine Zeit mit Jungs in meinem Alter verbracht hätte, wenn ich abends mit blutigen Knien nach Hause gekommen wäre, wenn ich mich geprügelt hätte, mein Gesicht rot vom Rennen und mein Herz wie eine fröhliche Trommel. Meine Mutter wünschte sich zerrissene T-Shirts, Baumhütten, Stürze, Splitter, rostige Nägel, Krankenwagen, Mutterängste und Auferstehungen.

      Sie wünschte sich für mich eine raue, männliche Jugend. Sie fürchtete, dass mich das Fehlen eines Vaters zur Memme machen würde. Sie hatte mich zum Judo geschickt, aber nach einem bösen kuchiki-daoshi hatte ich aufgegeben. Sie hatte mich beim Fußball angemeldet, aber wegen meiner Unfähigkeit landete ich auf der Ersatzbank.

      Ich war ein Kind, das wenig sprach. Ich hütete mich vor Brutalität, hütete mich vor den anderen. Vor unbändiger Gewalt. Vor Spucke, vor Dreck. Vor allem, was demütigt.

      Jungen interessierten mich nicht. Ich mochte die sanfte Stille, die zarte Art, mit der sich Mädchen ihre Geheimnisse zuflüsterten und erröteten, wenn sie die Welt entwarfen und ihre Fäden spannen.

      Manchmal verspotteten mich die anderen Schüler, schubsten mich im Schulflur, auf den Treppen. Einer rief Louise, das verletzte mich. Ein Großer versuchte es mit einem Fausthieb. Wehr dich! Wehr dich, wenn du ein Mann bist! Los! Ich zuckte mit den Schultern, aber er warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen meine Brust. Es gab böses Gelächter, aber ich ging nicht zu Boden. Ich weinte nicht. Ich schützte mein Gesicht. Meine Mutter sollte nicht sehen, wie ich mich schämte, sie sollte sich keine Sorgen machen, nicht den toten Vater zu Hilfe rufen, der mich mit seiner schmerzlichen Abwesenheit die unsichtbare Schönheit der Dinge sehen ließ.

      Später, als Victoria nicht mehr da war, stürzte ich mich in das Getümmel der Männer auf den Sportplätzen. Ich ertrank unter den Schlägen, die die Zärtlichkeit und die ungewisse Sanftheit der Gefühle vernichten. Und ich betete jedes Mal dafür, dass dieser Teil meiner Kindheit zertrümmert und ganz und gar zerstört werde.

      Aber die Gewalt siegt nicht über alles.

      »Du kannst doch nicht deine ganze Zeit mit Victoria verbringen«, sagte meine Mutter immer wieder, »das gehört sich nicht. Vergiss nicht, dass sie noch ein kleines Mädchen ist, und du bist fast schon ein Mann.«

      »Mama, ich bin fünfzehn! Das ist doch kein Männeralter.«

      »Ich habe einen Bruder, ich weiß Bescheid. Du brauchst Freunde.«

      »Sie ist meine Freundin.«

      »Und was macht ihr den ganzen Tag?«

      »Ich warte.«

      Ich warte darauf, dass sie größer wird, Mama. Ich warte darauf, dass sie den Kopf an meine Schulter lehnt. Ich warte darauf, dass ihr Mund zittert, wenn ich mich ihr nähere. Ich warte auf die betörenden Düfte, die sagen, komm, du kannst dich jetzt in mir verlieren, in mir verbrennen. Ich warte darauf, ihr Worte zu sagen, die man nicht zurücknehmen kann. Die Worte, die die Weichen stellen für ein Leben zu zweit. Für das Glück. Und manchmal für eine Tragödie.

      Ich warte darauf, dass sie auf mich wartet, Mama. Dass sie ja sagt. Ja, Louis, ich werde deinen Ehering aus Gras tragen und ich werde dir gehören.

      »Ich warte.«

      Da nahm mich meine Mutter in die Arme, erstickte mich fast, wie um mich zurückzuholen zu der Zeit, als wir zu dritt waren, als nichts Böses passieren konnte, der Zeit vor dem roten Wagen und dem explodierenden Herzen.

      »Du bist wie er, Louis. Du bist wie dein Vater.«

      Am letzten 14. Juli des Jahrhunderts fuhr der Bankier mit seiner Dichterin und ihrer Tochter ans Meer.

      Und Victoria lud mich ein. Zwei Autostunden, und wir waren in Le Touquet.

      Der Deich war schwarz von Menschen. Fahrräder, Skateboards, Roller, Kinderwagen und Tretautos für Erwachsene. Geschrei. Zuckerwatte. Von Nutella triefende Crêpes und Waffeln. Ich erinnere mich an süßes, vergängliches Glück. An helle Öljacken direkt auf der Haut, an den wirbelnden Sand, der in den Augen brannte.

      Am Strand war hie und da ein kleiner Windschutz aufgestellt. Familien drängten sich aneinander, um nicht vom Wind weggetragen zu werden. Und sich zu wärmen, wenn die Sonne verschwand.

      Ein paar Meter weiter füllten siebenjährige Baumeister Eimer mit feuchtem Sand, um Türmchen und Burgen zu bauen, brüchige Träume, die sie vor Müdigkeit oder Ärger irgendwann selbst zerstörten. In der Ferne flitzten Strandsegler am Wasser entlang, Reiter gingen im Schritt.

      Mitten auf der Straße küsste sich ein Paar, mindestens fünfzig – er erinnerte entfernt an Yves Montand in César und Rosalie –, so schamlos und gierig, als hätten sie etwas nachzuholen, unter den empörten oder neidischen Blicken von Paaren im gleichen Alter und ein paar einsamen Seelen.

      Wir gingen in Höhe der Avenue Louison-Bobet an den Strand.

      »Hier ist nicht so viel los«, sagte die Dichterin. »Hier kann ich besser lesen.«

      Der Bankier steckte einen großen gelben Sonnenschirm in den Sand, um die empfindliche Haut seiner Leserin zu schützen; er klappte zwei Trigano-Sessel aus blauem Leinen auf, die wie zwei Wasserpfützen aussahen, und sie ließen sich nieder. Plötzlich sahen sie ganz alt aus. Die Dichterin sah auf ihr Buch. Der Bankier sah aufs Meer. Ihre Blicke trafen sich nicht mehr. Die Ernüchterung hatte gesiegt, hatte die Lust vergiftet.

      Victoria nahm mich bei der Hand, und wir entfernten uns. Wir gehen spazieren, riefen wir, wir kommen gleich zurück! Wir rannten zum Golfplatz, zu den Dünen, dorthin, wo die Kinder sich der Aufsicht ihrer Eltern entziehen können. Und in einem Winkel, von Wind und Blicken geschützt, legten wir uns nebeneinander, ohne die Hände loszulassen. Wir hechelten im gleichen Rhythmus, und ich stellte mir unsere Herzen im gleichen Tempo vor, wenn der Tag kommen würde. Ich zitterte.

      Dann beruhigte sich unser Atem allmählich.

      »Ist dir klar, dass in sechs Monaten vielleicht das Ende der Welt kommt und wir dann alle sterben?«

      Ich lächelte.

      »Kann sein.«

      »Das Ende der Welt! Das Ende von dir, von mir, nie wieder dieser idiotische Witz meines Vaters über meinen Vornamen, Ende, Ende, Ende! Nostradamus hat es angekündigt. Es gibt sogar Leute, die ihr allerletztes Silvester vorbereiten, zum Beispiel in der Wüste. Das ist doch bescheuert.«

      »Finde ich nicht.«

      »Was würdest du machen, wenn es das Ende der Welt wäre?«

      Ich wurde rot.

      »Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass das stimmt.«

      »Das sagst du, weil du in mich verliebt bist, und wenn dann wirklich das Ende der Welt wäre, wärst du umsonst verliebt gewesen.«

      »Überhaupt nicht. Ich bin mit