Gerald Schneider

Das Meer und das Leben


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hatte ihr sonst friedliches Gesicht verloren. Bis an den Horizont nur die aufragenden Wellenkämme, gekrönt mit Schaumstreifen, manchmal überbrechend und mit über die See wandernden weggerissenen Gischtschwaden. Da zunächst fast ausnahmslos die Sonne schien, entstand ein ästhetisches Bild aus blau-grünem Wasser, den weißen Schaumköpfen, den Brechern sowie den zarten, halbtransparenten Schleiern der weggerissenen Gischt. Der Himmel war blau, aber diverse kleine weiße Sturmwölkchen wurden über den Himmel gejagt.

      Das Schiff war eine einzige ständige Bewegung. Die Wellen kamen aus West, also genau aus der Richtung, in die wir mussten. Wie es sich gehört, nahm der Steuermann die Wellen nicht direkt von vorn, sondern in einem spitzen Winkel nach Backbord. Wenn wir in eine Woge stießen, so traf sie also zunächst die Steuerbordseite, krachte gegen den Bug, wurde in meterhohe Gischtkaskaden zerschlagen, die mit dem Wind achteraus und an der Steuerbordseite entlang geweht wurden. Ich krallte mich am Schanzkleid fest und versuchte so gut es ging, dem Furor ins Gesicht zu schauen, wobei mir gelegentlich Gischtreste mit der Kraft des Sturmes ins Gesicht geklatscht wurden.

      Als besonders beeindruckend, ja geradezu beängstigend empfand ich mehr die Wellentäler als die Wellen selbst. Hatte „Alkor“ einen Wellenkamm überklommen, gähnte vor dem Bug ein entsetzlich klaffendes Loch, es war, als würde das Schiff in einen brodelnden Abgrund stürzen. Tief lag die Wasseroberfläche nun unter den Bug und während die Fahrt abwärts ging, sah ich die nächste Woge heranziehen. Wie in Zeitlupentempo wanderte die blau-grüne, glasig wirkende Wassermasse auf das Schiff zu und zeigte uns ihre ganze Höhe. Schaumstreifen zogen sich die Flanken hinauf, auf der Hauptwelle hatten sich unzählige kleine Sekundärwellen aufgesattelt und obenauf saß die gischtende, in der Sonne schneeweiß leuchtende Krone.

      Dann krachte der Bug gegen die Wasserwand. Es erfolgte der harte Schlag, das Aufplatzen der Woge, die Gischtschauer. Das Schiff zitterte in allen Verbänden, der Bug hob sich und der Wasserberg rollte unter uns durch. Dann kam der nächste Abgrund, der nächste glasige Berg, der nächste Schlag, das nächste Stöhnen des Schiffes. In breit angelegter Prozession zog Wellenkamm auf Wellenkamm gegen das Schiff.

      Gelegentlich konnten wir bereits in größerer Entfernung eine besonders hohe Welle heranziehen sehen. Dann kolkte die See noch tiefer aus, der Wasserberg türmte sich noch höher auf und schien fast das Schiff zu überragen, meine Hände krampften sich fester um das Schanzkleid und gleichzeitig neigte ich den Körper schräger nach vorn, die Beine „verankerten“ sich weiter hinten. Ich merkte deutlich einen schnelleren Herzschlag, der Adrenalinspiegel stieg drastisch an.

      Dann folgte die Kollision. Eine Riesenfaust schlug der „Alkor“ vor den Bug, meine Arme und Beine nahmen spürbar die Belastung auf und zitterten. Eine gewaltige Schaumkaskade jagte frei über Bord, verhüllte kurzzeitig die Brücke, überzog mich mit Sprühwasser und wurde weiter über Bord geweht. Es entstand für einen kurzen Zeitraum eine völlige Stille im Schiff und jeder an Bord merkte, dass wir standen. Festgenagelt, ohne jegliche Fahrt über Grund, ohne Fahrt durchs Wasser. Betäubt. Aber das war innerhalb weniger Sekunden vorbei. Dann machte „Alkor“ tapfer weiter. Es war beeindruckend, Furcht einflößend, aber auch schön und ästhetisch.

      Dies waren die Momente, wo ich die Seefahrt liebte, weil Sie mir etwas zeigte, was ich sonst nicht gekannt hätte. Dies waren aber auch die Momente, wo ich die See verfluchte, weil sie mir das antat. Es ist belastend, stunden- oder – wie zu anderen Gelegenheiten im Nordatlantik - tagelang angestrengt irgendwo zu stehen oder zu sitzen, jede Bewegung musste dem bockenden Schiff abgerungen werden. Ein vernünftiges Gehen war nicht möglich, wir mäandrierten in den Gängen zwischen den Wänden.

      Der Besuch auf der Toilette war ein Abenteuer für sich. Das „männliche“ Geschäft im Stehen war natürlich völlig tabu und im Sitzen sollte man sich an den beiden Handgriffen rechts und links von der Toilette festhalten. Dann kam der Punkt, wo man die Hose hochziehen wollte. Auch hier galt die goldene Regel „Eine Hand für den Mann, eine Hand für die Hose“. Aber eine Hose lässt sich nur schlecht mit einer Hand bedienen, zieht man rechts, kommt die Hose links nicht mit, sondern sitzt schief am Leib. Also nun mit links, dann wieder rechts! Allmählich wurde ich der Situation Herr, aber selbst solche trivialen Dinge bereiten erhebliche Schwierigkeiten.

      So etwas schreiben sie nicht, die Autoren von schlechten Seefahrtsromanen oder die Landratten, die abwegige Lieder zu Stande bringen. „Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen, der eiskalten Winde raues Gesicht“ oder „Wenn der Sturmwind sein Lied singt, dann winkt mir der Großen Freiheit Glück“. Pah, zum Teufel mit diesen Narreteien! Mir ist kein Seemann und kein Meeresforscher bekannt geworden, der auch nur andeutungsweise diesem Bild entsprochen hätte. Der Mann der Handelsschifffahrt will seine Waren schnell und sicher von A nach B bringen, der Fischer will in Ruhe fischen und sehnt sich nicht danach, einen Kampf mit herumschlagenden Scherbrettern und wild gewordenen Bobbins ausfechten zu müssen. Der Meeresforscher letztendlich ist daran interessiert, seine Instrumente und Netze in das Meer zu senken und auch heil wieder an Deck zu bekommen.

      Stürme passieren und sind zwangsläufiger Bestandteil der Bordroutine und des Berufslebens. Manchmal kann man ihnen ausweichen, ein anderes Mal nicht und dann muss man halt durch. Aber dass sich die Mannschaften freuen, nun endlich mal einer ordentlichen Bewährungsprobe gegenüberzustehen und im Sturm die „Freiheit der See“ zu genießen, ist ein großer Unsinn.

      Ich ging nach unten und stellte etwas erstaunt fest, dass ich auf einem Geisterschiff fuhr. Keine Menschenseele in der Messe oder sonst irgendwo. Die Damen und Herren Wissenschaftler hatten sich offensichtlich in die Koje begeben und auch von der Mannschaft war niemand zu entdecken. Wozu auch? Es gab im Moment für die Decksleute nichts zu tun. Alles war ordentlich aufgeklart, es gab keine Probleme und gearbeitet wurde auch nicht.

      Doch halt, hier quälte sich Harms, unser Maschinist, aus seinem Allerheiligsten tief unten im Schiffsbauch. Bei üblem Wetter sind zumindest zwei Leute an Bord hellwach und konzentriert bei der Arbeit: Der Wachhabende auf der Brücke und der Maschinenverantwortliche. Die Maschine ist nun mehr als sonst das Herzstück des Schiffes. Fiele die Maschine aus……Nicht auszudenken!

      Nun, unser Kollege musste ordentlich kämpfen, um den schräg nach unten führenden Niedergang zu erklimmen. Bei jedem Eintauchen neigten sich die Stufen der Horizontalen zu, während beim Aufreiten auf die Wellen unser Mann eine fast senkrecht nach oben führende Leiter zu erklimmen hatte. Dann ging es wieder abwärts und Harms wurde nach vorne gekippt. Hand für Hand und Fuß für Fuß kletterte er nach oben, zog sich durch das Schott und meinte breit grinsend mit seinem typisch grimmigen Humor zu mir: „Seefahrt tut not – aber warum müssen gerade wir dabei sein?“.

      Wir setzten uns dann auf eine Zigarette auf jene, allen „Alkor“-Fahrern wohl bekannte Holzbank auf dem Achterdeck. Das Heck vollführte dabei die wüstesten Bewegungen. Mal zeigte es steil nach oben und wir sahen nichts als Himmel, dann ging es rasant in die Tiefe, die Welle quoll als Wasserwand hinter dem Heck hervor und es war nichts zu sehen als Wasser.

      Und Bornholm. Zu unserem Erstaunen stellten wir fest, dass die Insel noch nicht hinter dem Horizont verschwunden war. Eigentlich hätte sie lange außer Sicht sein sollen, aber unsere Fahrt über Grund war durch die anrennenden Seen derart reduziert, dass wir kaum vorankamen. Es war klar, dass wir unsere übliche Passagezeit von rund 18 Stunden in den Wind schreiben konnten und die geschätzte ETA – Estimated Time of Arrival – von 7 Uhr in der Frühe das Papier nicht wert war, auf der sie notiert stand.

      Mittlerweile war ich der Fülle optischer Eindrücke von vorbeiziehenden Wellen, Gischtkaskaden und dem tanzenden Heck überdrüssig, begab mich in meine Kabine und ließ mich so wie ich war auf die Koje fallen. Erst jetzt, als ich ein wenig zur Ruhe kam, wurde ich gewahr, welchen Lärm der ganze Aufruhr verursachte. Von überall drangen Geräusche auf mich ein: Oben in der Kombüse hatte ich im Vorbeigehen das Geschepper von Tellern gehört, die im Schrank gegen einander schlugen, im Waschraum gurgelte der Abfluss, in irgendeinem Spind rollte ein Gegenstand permanent gegen die Wand, wieder zurück, erneut gegen die Wand. Tock – Tock – Tock und so fort. Wahrscheinlich eine nicht ordentlich gestaute Flasche Rasierschaum. Ein Teil der Innenverkleidung in der Kabine knarrte im Rhythmus der Wellen.

      Das waren aber nur Nebengeräusche. Über allem war das laute Gepolter, wenn