oder etwas dergleichen. Andererseits spreche doch etliches dagegen. – Dieser Lätt sei ein Schwafler, sagte der Vater; er selber wisse nämlich genau, woher das Geschwür komme. Das sei an der Stelle gekommen, wo ihn immer der Gürtel gedrückt, der Ledergürtel, den ihm der Schuhmacher voriges Jahr geflickt und zusammengenietet. Präzis bei den vier Nieten habe es den Eiss gegeben: die Hose sei ihm, wenn er sich gebückt – und bei seiner Arbeit müsse er sich eben häufig bücken –, hinten immer ein wenig nach unten gezogen worden, der Gürtel mit den vier Nieten jeweils oben geblieben, direkt auf der Haut: genau so sei es gewesen, das wisse er. Nichts als eine Art Eiss, und den habe er sich immerzu aufs neue aufgekratzt. Und schliesslich habe auch Doktor Lätt zugegeben, daran könne es liegen, die Nieten des Gürtels hätten das aufgeschürft, das sei wohl möglich; das oder was anderes, habe Lätt gesagt.
«Ich will mich nicht beklagen. Er hat das ganz gut herausoperiert. Hat eine Spritze gegeben, ich hab’ kaum was gespürt. So kleine Operationen, darauf versteht er sich, schnippeln tut er gern. Und jetzt kümmert er sich darum. Ich muss jeden zweiten Tag hin, und er verbindet es eigenhändig. Er gibt sich alle erdenkliche Mühe mit diesem bisschen Blessur.»
Sophie fragte, ob er, ausser den Leibchen, sonst noch was nötig habe.
Er dankte; er sei mit dem Nötigen versehen vorläufig. Es sei bloss lästig, jeden zweiten Tag nach Weiermatten zu fahren. Weit sei es zwar nicht, aber er verliere dabei meist doch einen ganzen Nachmittag, müsse, wenn er Pech habe, eine geschlagene Stunde warten, bis wieder ein Postauto komme. Er würde nichts sagen wollen, wenn’s in Weiermatten ein Wirtshaus gäbe: aber das geb’s in Weiermatten nicht. Er könne nicht verstehen, dass ein Doktor eine Praxis eröffne in einem Kaff, wo nicht mal eine Wirtschaft vorhanden sei.
Inzwischen waren zwei Männer in den Aufenthaltsraum getreten und hatten sich in der Nähe hingesetzt. Die Füsse des einen reichten, wenn er sass, nicht auf den Boden. Der andere kaute an einer leeren Tabakspfeife.
Als der Vater den Wirtshausmangel erwähnte, blickten beide herüber; der Kurzbeinige machte feixend eine Bemerkung, die ich nicht verstand.
Der Vater fixierte ihn: «Hast etwa etwas dagegen?»
Er hatte nichts dagegen.
Sophie legte die Hand auf Vaters Arm. «Schon recht», beschwichtigte sie. Und Lippen vorstülpen; zusätzlich nicken.
Und vom Wetter reden.
«Neblig», bestätigte der Mann mit der Pfeife.
Wir schauten alle zum Fenster hinaus.
«Schön, jetzt an der Wärme zu sein», sagte der Kurzbeinige.
«Quatsch», sagte der Vater, «langweilig ist’s.»
Im Laufe der folgenden Wochen besuchte ich ihn hin und wieder im Breitmoos draussen. Oder ich telefonierte mit ihm. Seine Laune verschlechterte sich.
Als ich an einem Sonntag gegen Abend beim Heim anrief, sagte die Angestellte, er sei nicht im Haus. An Sonntagnachmittagen halte er sich häufig im «Löwen» auf. Ich solle es dort versuchen.
Budmiger, der Wirt, nahm das Telefon ab. Ja, Haller sei da. Ob er ihn rufen solle.
Es dauerte eine Weile, bis der Vater am Apparat war. Ich hörte ihn den Gang entlangkommen. Er lärmte was in die Wirtsstube zurück, was wie Fluchen tönte.
Ah – ich sei’s, sagte er. Doch, es gehe. Bloss der Lätt, dieser Lätt sei und bleibe ein Quacksalber. Das Auswaschen, Neuverbinden habe nun lange genug gedauert. Er habe keine Zeit für solchen Blödsinn, habe Gescheiteres zu tun. Er wolle endlich wieder arbeiten. Er brauche das. Und er frage sich, ob es überhaupt nötig gewesen sei, den Eiss herauszuschneiden. Die Sache wäre sicher auch so verheilt. Länger auf jeden Fall als mit diesem Rumdoktern hätte es sicher auch nicht gedauert. Im Gegenteil, jetzt jucke es wieder am ganzen Rücken, vor der Operation habe es nicht mehr gejuckt. Und immer diese Sauerei im Bett, fast jeden Tag müssten sie die Leintücher wechseln. Es nässe aus dem Verband heraus; da könne der Doktor pflastern, soviel er wolle. Überhaupt, dieser Herr Doktor solle ihm bitte mal vormachen, wie man sich mit einem solchen Pflasterverband ins Bett legen könne. Schluss und fertig damit; er müsse endlich mit der Arbeit am Brunnen beginnen; zweimal sei Estermann schon vorbeigekommen und habe gefragt, wann er anfange. Auch dem Adam habe er versprochen, und das bereits letzten Herbst, die Fenstersimse zu scharrieren, sobald’s wieder wärmer werde. Das müsse nun alles warten wegen dieses Rückenzeugs. Einfach rumhocken, das sei nichts für ihn. Jetzt sei März, jetzt müsse er hinaus. Ausserdem habe er Sackgeld nötig.
Er hatte zuviel getrunken.
Was dieser Lätt ihm sage, sei ohnehin alles Mist. Der sage bald das, bald jenes, wolle ihn in die Stadt zu Briner schicken, einem Hautarzt, rede handkehrum von Spital und Bestrahlen und wer weiss was allem. Und dann wieder: man müsse noch warten, bis die Wunde verheilt. Aber er, Haller, sage, jetzt sei genug gewartet, verdammt noch mal.
Ob ich Lätt telefonieren solle, fragte ich.
Das habe keinen Wert, sagte der Vater.
Ob ich ihn das nächstemal in die Sprechstunde begleiten solle.
Er könne sich selber wehren. Dem sage er’s noch, aber sicher. So einer sei doch kein Doktor, ein Depp sei das.
Ich liess ihn reden, erwiderte wenig darauf.
Schön, dass ich mich gemeldet hätte, sagte er. Fügte hinzu: Es werde schon besser werden mit dem Rücken. Aber es heile eben nur langsam. Das ärgere ihn.
Jedesmal wenn ich ihm telefonierte, bedankte er sich am Schluss, dass ich telefoniert. Jedesmal musste ich Sophie einen Gruss ausrichten.
Rasselte der Wecker los, war ich meist schon wach. Ich drückte die Abstelltaste, zog mich im Badezimmer an: Sophie sollte noch eine Viertelstunde schlafen können. In der Küche, durch die Stube und den Gang vom Schlafzimmer getrennt, störte man nicht.
Frühnachrichten. Vielleicht stand ich nur auf, um allein die ersten Nachrichten hören zu können. Fast nie ist in der Nacht was Neues passiert.
Von der Allmendstrasse dröhnte der Lastwagenverkehr herüber. Ich stellte das Wasser auf den Gasherd, bereitete den Filter vor, nahm Butter, Milch aus dem Kühlschrank. Sobald der Kaffee fertig, der Tisch gedeckt war, ging ich Sophie wecken. Diese sinnreichen Ehebetten, zwei Matratzen und ein Brett dazwischen.
Für eine Chefsekretärin gehört es sich, geduscht und geschminkt ins Büro zu gehen. Wenn sie sich vis-à-vis an den Küchentisch setzte, hatte ich bereits mit dem Frühstück begonnen. Empfindlich gegen lautes Radio, drehte sie die Siebenuhrnachrichten auf leise. Sie trank nichts als schwarzen Kaffee, zwei Tassen. Ich strich mir Schnitten. Noch lieber hätte ich Bratkartoffeln gegessen. Aber ihr war immer beinahe übel geworden, wenn sie mich am Morgen früh derart hungrig hatte zugreifen sehen.
«Tschau, bis Mittag!»
Und weg war sie.
Normalerweise wäre ich jetzt ebenfalls gegangen.
Statt dessen legte ich mich nochmals hin; ich machte das Bett und legte mich in den Kleidern auf die Decke. Den Transistor hatte ich aus der Küche mitgenommen. Und zum drittenmal Nachrichten hören: inzwischen ist nochmals nichts Neues passiert.
Sophie dachte wohl, ich würde, sobald sie gegangen sei, die Haushaltsarbeiten erledigen. Der Haushalt gab wenig zu tun.
Ich weiss übrigens gar nicht, was Sophie dachte. Wahrscheinlich dachte sie gar nicht darüber nach, was ich tat oder nicht tat, während sie im Büro sass und die eingegangene Post sortierte, für Fritschi Telefonanrufe abnahm und Briefe schrieb. Nur ich begann darüber nachzudenken, was sie wohl denke, dass ich tue den ganzen Vormittag.
Aber das gehört nicht hierher.
Gartenwirtschaft; die Sonne schien. Vogeldreck auf den runden Blechtischen, Hühnerdreck auf dem Kies. Im Haus drinnen grosser Betrieb. Längs der Strasse standen Autos parkiert. Die Sparkasse der Gegend hielt ihre Generalversammlung ab: Handwerker, Kleinfabrikanten, Bauern. Budmiger hatte die Tische den Winter über draussen gelassen. Sie rosteten.