Nahm ich den Weg zum Vater. Geleiter warst mir du,
Mein Brief, mein treuer Mahner, auf dessen Seidengrund In wohlbedachten Zügen die Heimatsbotschaft stund.
Du warst mein lieber Leiter, du warst mein heller Stern,
Du mahntest mich zur Eile nach meiner Heimat fern.
So zog ich rasch des Weges, seitab vom Land Sarbug,
Und auch vorbei an Babel trug mich der Reise Flug Nach Maishans Hafenplätzen, dem großen Handelsort.
Da traf ich zwei Gesandte von meinen Eltern dort.
Die brachten mir den Mantel der Königsherrlichkeit Den ich zurückgelassen, das lichte Sternenkleid.10
Soweit das GNOSTISCHE PERLENLIED; es ist der Form nach ein Märchen, dem Inhalt nach reinste Gnosis. Der „Prinz“ ist die unsterbliche Geistseele des Menschen, das „Königreich des Vaters“ das Paradies in der geistigen Lichtwelt. Das Königsgewand, das er trug, soll den spirituellen Lichtkörper darstellen; diesen muss er einstweilen ablegen, wenn er nach „Ägypten“ – in die niedere, von den Archonten beherrschte Materiewelt – ausgesandt wird. Sein Auftrag: die Perle aus dem Brunnengrund zu heben, bedeutet: die verborgenen göttlichen Lichtfunken aus ihren materiellen Verschalungen zu befreien: der Mensch als Erlöser der Natur.
Der Prinz hat die Kleider der Ägypter angelegt, also einen dichteren irdischen Leib angenommen. Sobald er aber von der Speise der Ägypter gegessen hatte, vergaß er seinen Auftrag. Der Erlöser bedarf nun selbst der Erlösung. Da kommt jedoch der Brief aus der geistigen Lichtwelt, der den Prinzen an seine wahre Urheimat und seinen Auftrag erinnert. Der Brief bedeutet die geistigen Lehren der Gnosis, das Urwissen der Esoterik. Er verhilft dem Prinzen zu echter Selbsterkenntnis und ermöglicht es ihm, seinen Auftrag auszuführen. Nun kehrt er in sein Königreich zurück und bekommt wieder sein „Sternenkleid“, seinen göttlichen Lichtleib.
Einhörner, Drachen
und Fabelwesen
Das Einhorn
Eines der populärsten Märchenwesen, das uns zugleich eine höhere Welt des Geistes erahnen lässt, ist jenes mythische Fabeltier, das wir seit der ausgehenden Antike unter dem Namen „Einhorn“ kennen. Überall begegnet uns das scheue Einhorn, auf Gemälden und Wandteppichen, auf mittelalterlichen Paradies-Darstellungen, in Märchen, Filmen und Gedichten, bis in die Gegenwart hinein. Es begegnet uns, in wandelnden Gestalten, aber doch immer mit denselben Charakteristika, im Alten China, in Indien, Persien, in der Bibel, vor allem im Buch Hiob und den Psalmen Davids, in der berühmten Pariser Gobelin-Serie Die Dame und das Einhorn (La Dame à la Licorne), ausgestellt im Cluny-Museum, auf Fresken in der Engelsburg in Rom, auf Bildern von Hans Holbein und Lucas Cranach, auf Wappen und Apothekenschildern. Dichter haben es besungen, vor allem Rainer Maria Rilke, der es wie ein Wahrbild vor unserem Auge auferstehen lässt:
Der Beine elfenbeinernes Gestell
bewegte sich in leichten Gleichgewichten,
ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell,
und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten,
stand, wie ein Turm im Mond, das Horn so hell,
und jeder Schritt geschah, es aufzurichten.
Das Maul mit seinem rosa-grauen Flaum
war leicht gerafft, sodass ein wenig Weiß
– weißer als alles – von den Zähnen glänzte;
die Nüstern nahmen auf und lechzten leis.
Doch seine Blicke, die kein Ding begrenzte,
warfen sich Bilder in den Raum
und schlossen einen blauen Sagenkreis.11
Selbst noch im 20. Jahrhundert feiert das Einhorn seine Auferstehung und Wiederkunft. Der Märchenroman von Peter S. Beagle DAS LETZTE EINHORN (THE LAST UNICORN, 1968) wurde zu einem Kultbuch. Es erzählt, wie der Titel schon sagt, die Geschichte von dem „letzten Einhorn“ in einer entzauberten Welt. In einer poetischen Sprache, die Urmärchenhaftes wieder heraufdämmern lässt, wird es folgendermaßen beschrieben: „Es hatte keine Ähnlichkeit mit einem gehörnten Pferd, wie Einhörner gewöhnlich dargestellt werden; es war kleiner und hatte gespaltete Hufe und besaß jene ungezähmte, uralte Anmut, die sich bei Rehen nur in schüchtern-scheuer Nachahmung findet und bei Ziegen in tanzendem Possenspiel. Sein Hals war lang und schlank, wodurch sein Kopf kleiner aussah, als er in Wirklichkeit war, und die Mähne, die fast bis zur Mitte seines Rückens floss, war so weich wie Löwenzahnflaum und so fein wie Federwolken. Das Einhorn hatte spitze Ohren und dünne Beine und an den Fesseln Gefieder aus weißem Haar. Das lange Horn über seinen Augen leuchtete selbst in tiefster Mitternacht muschelfarben und milchig. Es hatte Drachen mit diesem Horn getötet und einen König geheilt, dessen vergiftete Wunde sich nicht schließen wollte, und für Bärenjunge reife Kastanien heruntergeschüttelt.“12
Das Einhorn steht als ein Sinnbild für einsames Umherschweifen. Aber diese Einsamkeit bedeutet nicht etwa Isolierung, Verlassenheit, sondern viel eher Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, die alles überschauende Einsamkeit des Adlers, der sich hoch in die Lüfte schwingt, die Einsamkeit wahrer Verbundenheit mit der Natur. Eine solche, zutiefst schöpferische Einsamkeit hat in Indien auch ein so großer Erleuchteter wie Buddha für sich in Anspruch genommen, der sich in einer von dem schwedischen Tierschriftsteller Bengt Berg übersetzten „Buddha-Hymne“ selbst mit dem Einhorn vergleicht, wie es in der immer wiederkehren Schlusszeile deutlich ausgedrückt wird:
Einem Löwen gleich, ohne Furcht vor Geschrei,
Einem Winde gleich, nie in Netzen gefangen,
Einer Lotosblume gleich, nie vom Wasser besprengt,
Lass' mich einsam wie ein Einhorn wandern.13
Das alttestamentliche BUCH HIOB nimmt ebenfalls auf die Freiheit und Unbezähmbarkeit des Einhorns Bezug: „Meinst du, das Einhorn werde dir dienen und bleiben an deiner Krippe? Kannst du ihm dein Joch aufknüpfen, die Furchen zumachen, dass es hinter dir brache in Gründen? Magst du dich darauf verlassen, dass es so stark ist? Und wirst du es dir lassen arbeiten? Magst du ihm trauen, dass es deinen Samen dir wiederbringe und in deine Scheune sammle?“ (Hiob 39/9). Es sind alles rhetorische Fragen: das Einhorn ist frei, wild, unzähmbar, darin liegt der Sinn der hier zitierten Sätze.
Talmudische Texte berichten von wilden Kämpfen des Einhorns mit dem Löwen, und so wurde das Einhorn im Judentum zu einem Symbol für göttliche Macht und unbesiegbare Kraft, die Gott besonders seinem „auserwählten Volk“ zeigte: „Gott hat sie aus Ägypten geführt, seine Freudigkeit ist wie eines Einhorns.“ (4. Mose 23/22). „Seine Herrlichkeit ist wie eines erstgeborenen Stiers, und seine Hörner sind wie Einhornhörner; mit denselben wird er stoßen die Völker zu Haufen, bis an des Landes Enden.“ (5. Mose 33/17) Und interessanterweise wird in der jüdisch-christlichen und mittelalterlichen Tradition die Stärke des Einhorns, dieses wunderbaren Zauberwesens, zunehmend als etwas Unheimliches, Bedrohliches empfunden, sodass zuletzt ein Martin Luther aufstöhnen konnte: „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern!“ (Psalm 22/20-22)
Aber trotz seiner unbändigen, zuweilen furchteinflößenden Kraft bleibt das Einhorn doch ein überirdisches himmlisches Wesen, Wohngenosse und Gefährte von Adam und Eva im Paradies, wie die Legende zu berichten weiß: „Gott forderte Adam auf, die Tiere zu benennen. (….) Das erste Tier, dem er einen Namen gab, war das Einhorn. Als Gott den Namen hörte, kam er hernieder und berührte die Spitze des einzigen Hornes, das diesem Tier auf der Stirne wuchs. Von da an war das Einhorn erhöht über die anderen Tiere. Adam und Eva konnten auf seinem Rücken reiten. Alle Tiere und das Menschenpaar