auch diese genauso schnell wie die ersten beiden erledigen zu können, schwingt sie sich auf einen silbernen Barhocker. Anna schaut euphorisch auf die Theke vor sich. Hat er ihr versehentlich vier Cocktails serviert? Ach nee, sind doch nur zwei. Anna kichert erneut, um dann, diesmal den Strohhalm ignorierend, komplett mit der Nase im Glas zu verschwinden.
Während ihr diverse Cocktailfrüchte im Gesicht kleben, beginnt Anna den heutigen Tag zu rekapitulieren. Eine Szene geht ihr immer wieder durch den Kopf. Hat sie sich wirklich dafür entschuldigt, dass sie ihren Freund beim Fremdgehen erwischt hat? Andere hätten ihn zur Rede gestellt, eine Szene gemacht und diversem Porzellan ein Ende bereitet. Und was macht sie? Sie entschuldigt sich! Beim nächsten Mal kann sie den beiden ja im Dienstmädchenoutfit noch Frühstück ans Bett bringen. „Haben die Herrschaften wohl genächtigt?“, spricht Anna den Satz mit verzogener Miene in bester Imitation eines englischen Butlers vor sich hin.
So langsam kommt sie richtig in Fahrt. Starr blickt sie geradeaus ins Nichts, während sich ihre Hände zu Fäusten ballen. Wenn Blicke töten könnten! Wie versteinert sitzt Anna auf ihrem Hocker, während ihre rechte Hand in Zeitlupe Richtung Gesicht fährt, um dort mit einer zurückgebliebenen Ananas abzurechnen.
Wütend beißt sie in die Cocktailfrucht. Erst einmal an die frische Luft! Anna hüpft etwas übermütig vom Barhocker. Torkelnd verliert sie das Gleichgewicht und stürzt in zwei helfende Arme. Noch im Rettungsgriff verharrend, starrt Anna an die alte Stuckdecke des Clubs. Nicht nur die glitzernde Discokugel, sondern der ganze Laden scheint sich zu drehen. Langsam und vorsichtig wird sie von den helfenden Armen aufgerichtet und an beiden Schultern fixiert.
„Hoppla, meine Liebe. Aber ist ja nichts passiert“, tönt eine charmante Stimme in ihrem Rücken. Nachdem Anna sich gefangen hat, dreht sie sich langsam um. Die Stimme und die helfenden Arme gehören zu einem dunkelhaarigen, sportlichen Typen in einer braunen Lederjacke. Dieser lächelt sie freundlich durch einen Dreitagebart an und deutet auf ein zerbrochenes Glas am Boden. „Da hole ich mir wohl eine neue Cola. Pass beim nächsten Mal einfach besser auf“, zwinkerte er Anna zu.
„Wie bitte?!“ Perplex schaut Anna in zwei dunkelbraune Augen.
Das war zu viel. Erst soll es ihre Schuld sein, dass sie im Rennen um ihren Job gegen Jakob verliert. Dann ist es angeblich ihre Schuld, wenn sie daraufhin zu früh nach Hause kommt, um ihren Freund mit der vertrottelten Janine im Bett zu erwischen. Und NUN ist es also auch noch ihre Schuld, wenn dieser Zac-Efron-Verschnitt für Arme sie von hinten anrempelt und dann seine Cola nicht halten kann!
Anna stemmt ihre Hände in die Hüften und nimmt so eine kampfbereite Pose ein. „Ich soll aufpassen? Bei Dir piept’s wohl!“, eröffnet Anna den Kampf und deutet, den Abstand falsch einschätzend, mit dem ausgestreckten Zeigefinder in das Gesicht des „Retters“.
Es fehlt nicht mehr viel und Annas Finger würde Bekanntschaft mit dem Innenleben seiner Nase machen. Gong! Ring frei zur ersten Runde. Sichtlich verwundert, welche Wendung seine Rettungstat genommen hat, entgegnet der Helfer in Lederjacke: „Ich glaube, du hast ein wenig zu viel getrunken, Kleines. Du solltest besser nach Hause gehen.“
Anna läuft rot an. „Ich, betrunken? Du tickst ja nicht sauber. Ich habe noch nie Alllohol getrunken!“ Anna schwankt hierbei leicht von rechts nach links. „Du hast zu viel getrunken. Überhaupt war das deine Schuld. Du bist genauso schuld wie das schuldige Nashorn da.“ Anna deutet auf die inzwischen leere Theke.
Realisierend dass dieses Gespräch keinen Sinn ergibt, verabschiedet sich der Fremde an das andere Ende der Bar. Richtig in Fahrt gekommen, erweitert Anna ihr Feindbild auf die gesamte Männerwelt. „Ihr seid doch alle gleich! Wir Frauen tun alles für euch. Und am Ende betrügt ihr uns mit eurer „platonischen“ Janine, mit schlechtem Vasengeschmack. Wer unter Fünfzig schenkt den bitte einem Freund eine Vase? Wisst ihr denn überhaupt, was platonisch heißt?“
Mittlerweile vor einem kleinen, sichtbar amüsierten Publikum performend, bemerkt Anna die Abwesenheit ihres Kontrahenten nicht. Dieser erscheint nach wenigen Minuten mit einem weiteren unschuldigen Einhorn in der Hand zurück im Ring.
„Hör mal zu, Kleines. Nimm es nicht persönlich, aber ich kann schon verstehen, warum dein Freund dich betrogen hat. Hier noch einen Drink auf mich, Prinzessin Arschloch!“
Sprachlos bleibt Anna mit dem Einhorn in der Hand zurück, während der edle Spender sich lächelnd umdreht und verschwindet. So langsam wenden sich auch die letzten Schaulustigen von der Szene ab und wieder ihrem eigenen Treiben zu.
„Prinzessin Arschloch? Du bist eine Prinzessin Arschloch, du Arschloch“, lallt Anna, während sie den Cocktail ansetzt, um ihn mit einer dramatischen Bewegung herunterzukippen. Als sie fertig ist, liegt die Hälfte der Cocktailfrüchte auf dem Boden. Oh, das war wohl ein Schluck zu viel. Das, was soeben hereingezwungen wurde, möchte nun auf direktem Wege wieder heraus. Panisch stellt sie das leere Glas auf der Theke ab und hastet Richtung Ausgang. Sie rempelt sich durch die Menschenmenge bis zur Eingangstreppe, während sich ihr Mund langsam mit einem Cocktail der anderen Art füllt. Einem Kugelfisch gleich stürzt die pausbäckige Anna durch die Tür und wird ruckartig am Arm gepackt. Es ist Bronco, Annas Lieblingstürsteher. „He, Zuckerbiene. Wir müssen doch noch die heutige Abendgymnastik besprechen.“
Bei diesem Satz bricht es aus Anna heraus: Mindestens ein Liter des unschuldigen Einhorns ergießt sich über Broncos vormals weißes Shirt. Regungslos schaut der Türsteher an sich herab und ist sprachlos. Anna, dagegen sichtlich erleichtert, löst sich aus seinem Griff und wischt sich verbleibende Reste aus dem Gesicht. „Jetzt hast du ein Hawaiihemd, Bronco!“
4
Der erste Kater
Es ist elf Uhr morgens. Während Berlin bereits seit einigen Stunden erwacht ist, öffnet Anna nach ihrer Partynacht erstmals die Augen. Unter ihrer rechten Wange fühlt sie den nassen Stoff ihres vollgesabberten Kissens. Ein stechender Schmerz pulsiert in ihrer Schläfe. Sie kann ihre Augen kaum öffnen. Die Sonne bahnt sich penetrant ihren Weg durch die viel zu schmalen Designervorhänge. „Wo zur Hölle bin ich?“, stöhnt Anna mit der Stimme einer achtzigjährigen Kettenraucherin. Sie fühlt sich hundeelend und schaut gequält mit einem halbgeöffneten Auge an sich herab. Und wieso zur Hölle habe ich weder Oberteil noch BH an, dafür aber meine roten Turnschuhe? Langsam dreht sie ihren Kopf und sieht sich um. Dieser Kleiderschrank kommt ihr doch bekannt vor. Und plötzlich fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Berlin, Alex, die Party im Downtown Club… Nils.
Anna geht kurz in sich. Ah, diese Kopfschmerzen. Etwas Gutes haben sie zumindest. Sie überschatten den aufkommenden Herzschmerz. Hm, das wäre es doch. Schlagzeile: Kopfschmerzen aus der Dose gegen Liebeskummer, witzelt Anna in sich hinein. Aua! Memo an Anna: Keine Witze bei Kopfschmerzen.
Mühsam quält sie sich in eine aufrechte Position, um kurz darauf wie ein nasser Sack zurück ins Bett zu fallen. Das war wohl nichts. Beim zweiten Versuch sammelt sie all ihre Kraft, um sich wie von einem Hexenschuss befallen aus dem Bett zu heben.
Sie braucht dringend etwas zum Anziehen und öffnet Alex‘ Kleiderschrank. Nach kurzem Suchen entscheidet sie sich für einen weißen, kuscheligen, mit bunten Einhörnern besticken Pyjama. Kuschelig. Genau das kann sie jetzt gebrauchen. Anna hält inne und betrachtet die über Regenbögen hüpfenden Fabelwesen. Auf den zweiten Blick inspiziert sie die Einhörner genauer. Einhörner. Da war doch was.
Egal, denkt sich Anna und schlüpft in Zeitlupe in den Ganzkörperschlafanzug. Beim Aussuchen dieses kuscheligen Kleidungsstückes hat Anna anscheinend die Komplexität des Einsteigens unterschätzt. Am Hintern ist eine kleine Luke angebracht, die mit zwei Knöpfen gehalten wird. Nachdem Anna keine weitere Eingangsmöglichkeit entdecken kann, entscheidet sie sich für den Einstieg mit den Beinen voran durch die Gesäßluke.
Geschafft. Wenn es nach ihr ginge, wäre das Tagespensum an Anstrengung nach dieser phänomenalen Leistung erledigt.
Nach kurzem Ausruhen schlurft Anna wie ein Zombie Richtung Zimmertür. Aber einer der Zombies aus den Sechzigern. Nicht einer von diesen gruseligen schnellen aus den aktuellen Filmen. Mühsam drückt sie die Klinke herunter und betritt das Wohnzimmer.
Nach