Antoine Laurain

Ein Tropfen vom Glück


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      Antoine Laurain

      Ein Tropfen vom Glück

      Roman

      Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer

      Atlantik

      Ich suche ein Anderswo, aber nicht allzu weit weg.

      Jean-Jacques Sempé

      Quelques mystiques

      Es geschah in der Nacht, bei zunehmendem Mond inmitten der Weinberge des Beaujolais. Das Protokoll, das von dem Ereignis aufgenommen wurde, enthielt auf seinen vier Schreibmaschinendurchschlägen folgenden Text:

      Charmally-les-Vignes. Monsieur Pierre Chauveau (47 Jahre alt) – Zeugenbericht über den 16. September 1954.

      Rubrik 557: Gemeindeleben.

      Ich ging durch die Weinberge nach Hause. Es war kurz vor Mitternacht. Ich kam mit Michel Perigot und François Lecharny aus dem Wirtshaus »Zum Roten Wiesel«, wir haben uns vor dem Kriegerdenkmal getrennt. Egal. Ich gehe also im Mondlicht durch die Weinberge. Der Mond ist nicht sehr hell, aber das ist nicht schlimm, ich kenne den Weg wie meine Westentasche. Alles war normal. Und genau da ist es passiert. (Pause). Plötzlich war da ein ungeheures Licht, wie wenn der Blitz eine Sekunde lang die ganze Umgebung erhellt, außer dass es viel länger gedauert hat. Ich war gerade im Weinberg Saint-Antoine, der Jules Beauchamps gehört. Es war riesengroß, es füllte den ganzen Himmel aus, überall Lichter, wie eine echte Stadt, mit lauter kleinen Fenstern, und völlig geräuschlos. Mir stand der Schnabel offen vor diesem Hexenkessel über meinem Kopf, und mir war so schwindelig, dass ich mich auf den Hintern gesetzt habe. Das Ding hing eine Weile über den Weinbergen. Vielleicht wurde ich von da drinnen beobachtet. Dann hat es sich um eine Viertelumdrehung gedreht und ist abgezischt wie eine Fliege. Dann war es vorbei. Aber der Hexenkessel war da. Ich habe ihn gesehen, und deshalb mache ich eine Aussage, gegen den Rat meiner Frau und meiner Familie. Ich berichte den Ordnungskräften, was ich gesehen habe.

      Im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte.

      Pierre Chauveau

      Dieser erstaunliche Zeugenbericht wurde von der Präfektur abgelegt unter dem Titel: Beobachtung eines unbekannten Flugobjekts durch Pierre Chauveau, Winzer in Charmally-les-Vignes. Auch wenn die Gendarmerie des Kantons es nicht gewohnt war, derartige Aussagen aufzunehmen, regten sich die an jenem Morgen diensthabenden Beamten nicht übermäßig auf. Seit Jahresbeginn hatten die Gendarmerieposten des Landes ungewöhnlich viele derartige Aussagen aufgenommen. Notorische Trinker, Fabulanten, einfache Gemüter, Anwälte, Honoratioren, unbescholtene Lastwagenfahrer, Pfarrer, Städter, Landwirte – Zeugen verschiedenster Art. Die Behörden beschränkten sich darauf, ihre Pflicht zu tun: die Berichte dieser Personen zu verzeichnen, sie an die entsprechenden Stellen weiterzuleiten und in mehrfacher Ausfertigung zu archivieren. Zur größten Freude ihrer Leser versäumte die Presse – vornehmlich die lokale – keine Gelegenheit, über diese erstaunlichen Beobachtungen zu berichten. Als das Jahr 1954 zu Ende ging, zählte man über tausend Aussagen bei der Gendarmerie und an die fünfhundert Berichte über gesichtete Ufos im ganzen Land. Es wurde keinerlei Erklärung für das Phänomen vorgebracht, dann ging die Zahl der Zeugenaussagen zurück, um sich wieder auf das gewohnte Maß einzupendeln – zwischen fünfzig und hundert im Jahr.

      Wie seine Familie es vorausgesehen hatte, wurde Chauveau lange damit aufgezogen, und sein Abenteuer trug ihm mit der Zeit den Spitznamen »Väterchen Untertasse« ein.

      1978 nahmen ihn seine Enkel mit in den Film Unheimliche Begegnung der dritten Art. Sie waren die Einzigen, die die Geschichte ihres Großvaters faszinierend fanden, und vor allem waren sie die Einzigen, die ihm glaubten. Bei der Ankunft des Mutterschiffs vor den Augen François Truffauts in der Rolle des Professors Claude Lacombe rief Pierre Chauveau aus: »Herr im Himmel, das ist es! Das ist genau der Hexenkessel, den ich 1954 gesehen habe!« Im Kinosaal erklangen laute Pscht-Rufe und Zungenschnalzer sowie ein: »Halt’s Maul, Chauveau!«, von dem man nie erfahren würde, wer es gesagt hatte. Am selben Abend beschloss Pierre Chauveau unter dem missbilligenden Blick seiner Frau, zum Essen die Flasche Château Saint-Antoine Jahrgang 1954 zu trinken, die er aufgehoben hatte. Wie gewohnt goss er auch einen Schluck in den Wassernapf seiner Hündin Ausweis – Tochter von Schnell und Enkelin von Sieg, einem deutschen Schäferhund, der von der überstürzt abgezogenen Waffen-SS vergessen worden war und von dem es immer geheißen hatte, es handle sich in Wahrheit um einen Wolf.

      Am nächsten Tag machte er sich auf den Weg zur Kooperative und ward nie mehr gesehen. Weder er noch Ausweis. Das letzte Bild, das seine Angehörigen von ihm im Gedächtnis behalten würden, war das eines Mannes in Begleitung seiner Hündin, der seinen Kragen hochschlug und an seiner Pfeife zog: »Was für ein Mistwetter«, hatte er angesichts des Dauerregens gerufen, dann hatte er die Tür hinter sich geschlossen und war nie wieder aufgetaucht. Es war eine Suchmeldung herausgegangen, man hatte die Teiche abgesucht und die Wälder durchforstet. Ohne jeden Erfolg.

      Die vom Weinberg Saint-Antoine stammende Cuvée von 1954 war herausragend gewesen. Die Flaschen des Jahrgangs, achthundert an der Zahl, hatten reißenden Absatz gefunden und waren binnen Jahresfrist getrunken worden. Dieser junge Wein schien bereits die Alterung eines dreißig Jahre gelagerten Grand Cru aufzuweisen. Ein Önologe attestierte ihm sogar »die Tanninnoten und den Abgang eines großen Chambolle-Musigny«. Jules Beauchamps erklärte, es sei die Frucht seiner Arbeit und der neuen Techniken, die er einsetzte. Doch das Wunder wiederholte sich nie, und schon im nächsten Jahr wurde der Château Saint-Antoine wieder zu dem kleinen Tafelwein, der er immer gewesen war.

      Himmel über Paris, 2017

      »Bitte schnallen Sie sich an, bringen Sie Ihren Sitz in eine aufrechte Position und klappen Sie die Tische hoch, wir beginnen unseren Landeanflug auf den Flughafen Roissy-Charles-de-Gaulle, es ist 19:40 Ortszeit, die Bodentemperatur beträgt 14 Grad Celsius.« Das mächtige Fahrwerk der Boeing 767 von American Airlines wurde unter lautem Dröhnen ausgefahren. Paris. Endlich. Nach zehn Stunden im Flugzeug würde Bob Brown zum ersten Mal in seinem Leben einen Fuß auf französischen Boden setzen. Er klappte Hemingways Paris – Ein Fest fürs Leben zu, das sein Sohn und seine Tochter ihm geschenkt hatten, stellte seinen Tisch hoch und seine Rückenlehne gerade. »Wir sind da, Goldie«, murmelte Bob und tätschelte die Armlehne des leeren Sitzes neben seinem eigenen. Auf dem dritten Sitz am Gang schlief ein dicker Chinese, eine Schlafmaske über den Augen. Die Flugbegleiterin weckte ihn sanft, und er stellte ebenfalls seine Rückenlehne und seinen Tisch hoch.

      Paris war immer Bob und Goldies Traumziel gewesen. Im Lauf der Jahre hatte die französische Hauptstadt für sie mythische Züge angenommen: Montmartre, der Eiffelturm, Notre-Dame, die Seine-Brücken, die Place de la Concorde, der Louvre, die Caféterrassen, die Oper und andere symbolträchtige Orte schienen ihnen einer Zauberstadt anzugehören, deren Boden sie nie betreten würden. Einem in der Zeit versunkenen Alexandria, das noch seinen Leuchtturm und seine Bibliothek besäße, einem Rhodos mit seinem Koloss, einem Babylon, dessen frische Gärten voller Bäume und Blumen über dem Euphrat hingen. Dieser geteilte Traum ging auf ihre erste Begegnung zurück.

      Dreißig Jahre zuvor hatte der achtundzwanzigjährige Bob die Flügeltür des WHY Not aufgestoßen, einer Bar in der Lyon Street in Milwaukee. Er war an diesem schwülen Augusttag mit einem jungen Mann verabredet, der per Kleinanzeige eine gebrauchte Harley Davidson XR-750 verkaufte, in schlechtem Zustand, aber zu einem sehr interessanten Preis. Bob, von Beruf Mechaniker, wollte das Motorrad sehen, bevor er vielleicht mit den paar Hundert Dollar, die er angespart hatte, ein Angebot machte. Die Bar war um diese Tageszeit leer. Er war auf den Tresen zugegangen und hatte das blonde Haar und das hübsche Lächeln von Goldie Delphy erblickt, dreiundzwanzig Jahre alt, seit kurzem als Bardame dort tätig, die mit ihren zarten Händen Biergläser abtrocknete. Jahre später würde Goldie diese Szene ihren Kindern gegenüber bei zahlreichen Gelegenheiten folgendermaßen zusammenfassen: »Euer Vater ist in meine Bar gekommen wie in einem Clint-Eastwood-Film!« Und Bob würde jedes Mal hinzufügen: »Frauen wie eure Mutter hatte ich bis dahin nur auf dem Pin-up-Kalender in der Werkstatt gesehen!«

      Der Mann mit der Harley ließ auf sich warten, und je mehr Zeit verging, desto weiter entfernte sich das in Milwaukee produzierte Motorrad in