aufsetzen würden. Zwei Gäste unterhielten sich auf einem Sofa, während der Barmann, ein dünner Mann mit weißem Bürstenschnitt und Halbmondbrille, Flüssigkeiten aus mehreren Flaschen in den Shaker goss: Gin, Kirschlikör, Preiselbeersaft, Rosenlikör … Wie hypnotisiert ging Julien auf ihn zu. Der Barmann, dessen Vorname »Gérard« in Rot auf seine weiße Schürze gestickt war, blickte auf und betrachtete ihn durch seine Brille. »Praktikant?«, murmelte er.
»Ja, Monsieur«, antwortete Julien.
»In der Küche?«
»Im Service.«
Der Barmann zog mitleidig eine Augenbraue hoch. »Wir sind hier an der Bar, das ist ein anderes Universum.« Er nahm den Shaker, schüttelte ihn elegant über seiner Schulter und öffnete ihn dann. Die geschüttelten Eiswürfel hatten das Chrom mit Reif überzogen, und »Gérard« verteilte den Inhalt tropfengenau in zwei trichterförmige Gläser, die er mit einer Kirsche und einem Zweig frischer Minze garnierte. »Golden Jaipur, eine Eigenkreation«, erklärte er, ehe er die Gläser auf ein Silbertablett stellte und zu seinen Gästen trug.
In diesem Augenblick wurde Julien klar, was er im Leben machen wollte. Besser noch: wo sein Platz war. Hinter einem Tresen, mit einer weißen Schürze, die mit seinem Vornamen bestickt war, mit Tausenden von Cocktails im Kopf, die er auf Verlangen mixen könnte, wenn er sie nicht sogar selbst erfand.
Einen Monat später verfasste Monsieur Gérard einen Brief, der mit den Worten begann: »Monsieur Julien Chauveau ist mit Abstand der begabteste Praktikant, der mir in meiner langen Karriere untergekommen ist.« Nach drei Jahren Schule erwarb er mit Leichtigkeit seinen Abschluss als Bartender und Mixologe. Am Abend vor seiner Abreise nach London, wo er seine erste Stelle antreten würde, lud er seinen Bruder, seine Schwester und seine Eltern in eines der besten Restaurants von Lyon ein. Sein Vater hob sein Glas und verkündete schlicht: »Dein Urgroßvater wäre stolz auf dich gewesen.« Es entstand eine Stille, die Julien durchbrach: »Ich bin mir sicher, dass er uns sieht … von da oben«, worauf niemand einging, außer vielleicht seine jüngere Schwester, die müde seufzte. Dann tranken sie einen ausgezeichneten Juliénas.
Pierre Chauveau blieb das Rätsel der Familie. Wenn Julien auch zehn Jahre nach seinem Verschwinden 1978 geboren wurde, hatte ihn die Geschichte von Väterchen Untertasse doch von klein auf fasziniert. Unablässig hatte er seinen Vater und seine Tante über jenen Abend ausgefragt, an dem sie den Film von Spielberg gesehen hatten und sein Urgroßvater im Kino laut gesagt hatte, das Mutterschiff sehe genau aus wie das Ufo, das er 1954 gesehen habe. Julien hatte Recherchen über dieses Jahr angestellt, das in einschlägigen Kreisen auch als das »Jahr der fliegenden Untertassen« bezeichnet wurde. Im Lauf der Zeit hatte er eine beeindruckende Dokumentation über Ufo-Sichtungen zusammengestellt, deren Herzstück eines der seltenen Exemplare des 1955 im Selbstverlag erschienenen Buchs Besuche und Phänomene aus dem Weltall war, verfasst von dem legendären Astronomen Charles Arpajon. Ein Kultbuch, in dem der Autor die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen fliegenden Untertassen und Zeitreisen aufstellte.
Er hatte auch am eigenen Leib erfahren, wie ausschließlich männlich dieses Hobby war. Offenbar glaubten Frauen nicht an fliegende Untertassen und hielten Männer, die sich dafür interessierten, für verträumte, wenig verlässliche, ja infantile Typen. Wenn er gegenüber seinen wenigen Eroberungen seine Leidenschaft für Ufos erwähnte, spürte Julien jedes Mal, dass er Glatteis betrat. Fortan vermied er es, mit Menschen des anderen Geschlechts darüber zu reden, und begnügte sich mit Internetkontakten zu Ufologen aus fünf Kontinenten. Für Julien war die Erfahrung seines Vorfahren etwas Außergewöhnliches und sein Verschwinden zwingend damit verbunden. Für seine Familie dagegen hatte Väterchen Untertasse nie irgendetwas gesehen, und für seine unwahrscheinliche Vision war allein der Alkohol verantwortlich, den er mit seinen Kumpanen im Wirtshaus Zum roten Wiesel zu sich genommen hatte. Seine Aussage bei der Gendarmerie hatte nur dazu geführt, dass er zum Gespött der Leute wurde. Was sein Verschwinden betraf, so lag die Erklärung für das Rätsel, wenn es denn ein Rätsel gab, auf dem Grund eines Teichs, den abzusuchen man versäumt hatte.
An all das dachte Julien auf dem Weg zu seiner ersten Eigentümerversammlung, und an Magalie, deren tintenschwarzes Haar in der Abendbrise flatterte. Sein enzyklopädisches Wissen über Cocktails und Ufos half ihm nicht im geringsten dabei, ihr seine Liebe zu erklären. Vier Monate lang hatte er sie mit einem blonden blassäugigen Mann gesehen, der ihm vom ersten Moment an zuwider gewesen war. Dieser Mann durfte sie in den Armen halten, küssen, am Wochenende mit ihr an den Strand fahren, bei Sonnenuntergang händchenhaltend am Wasser entlangspazieren und anschließend mit ihr in ein Hotelzimmer gehen. Es war vollkommen ungerecht. Doch nun hatten sich, wie er zugeben musste, neue Möglichkeiten aufgetan: Seit drei Wochen hatte er sie mit niemandem mehr gesehen.
An der nächsten Kreuzung blickte Julien zu einer Werbetafel auf. Ein großes Plakat warb für die »Tage des Kulturerbes«, die am nächsten Tag begannen. Auf dem Bild unter dem flotten Slogan »Morgen beginnt gestern!« sah man öffentliche Verkehrsmittel und Autos aus vergangenen Zeiten vor symbolträchtigen Orten wie dem Sitz der Nationalversammlung oder dem Élysée-Palast, die zu diesem Anlass »Tage der offenen Tür« veranstalteten und von Parisern und Touristen besichtigt werden konnten. Die öffentlichen Verkehrsbetriebe RATP organisierten wie jedes Jahr Schnitzeljagden für die Kinder und holten alte Autobusse mit offener Heckplattform und Metrowaggons mit Holzbänken hervor.
»Wie wär’s mit einer Fahrt in einem alten Autobus morgen?«, versuchte Julien sein Glück und zeigte auf das Plakat.
»Ja, warum nicht«, antwortete Magalie lächelnd. »Aber er müsste uns wirklich in die Vergangenheit bringen! Ich wäre gern einmal in den Halles gewesen, den echten Halles, die Baltard-Pavillons mit den Metzgern und den Gemüsehändlern. Man sagt, dass sich da nachts alle trafen: Metzger, feine Leute, amerikanische Touristen, Filmschauspieler …«
Julien nickte lächelnd. Er konnte sich sehr gut vorstellen, mit Magalie an einem dieser lauten, fröhlichen Tische zu sitzen, zwischen Tellern mit Bœuf Bourguignon und knallenden Champagnerkorken. »Vorsicht!«, sagte in dem Moment Magalie und legte ihm die Hand auf den Unterarm – die Ampel sprang auf Grün, und ein Motorroller war schon angefahren.
Die Berührung ihrer Hand ließ sein Herz höherschlagen, holte ihn aber auch in die Wirklichkeit zurück: Sie waren im Jahr 2017, und kein Autobus würde sie zum Abendessen in die Vergangenheit bringen.
»Die Leitung der Sitzung wird sicher wieder Monsieur Larnaudie übernehmen, nehme ich an«, sagte Mademoiselle Prusin mit ihrer Kopfstimme.
Die vierzehn Personen, die im großen Versammlungssaal der Hausverwaltung Foncia am Tisch saßen, nickten.
»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen«, begann Hubert Larnaudie. »Lassen Sie uns die einzelnen Punkte dieser Versammlung gemeinsam durchgehen. Zunächst möchte ich Monsieur Julien Chauveau begrüßen, unseren neuen Miteigentümer, der im Erdgeschoss links zur Hofseite eingezogen ist, in die frühere Wohnung von Monsieur Berlier. Monsieur Chauveau ist Barmann in der berühmten Harry’s Bar in Paris.« Julien nickte lächelnd und begegnete dem Blick Magalies, die ihm zuzwinkerte. »Ich bedaure die Abwesenheit von Madame Renard«, fuhr Hubert fort, »die ihre Wohnung im sechsten Stock für meinen Geschmack etwas zu oft über Airbnb vermietet – ich begegne regelmäßig mit Koffern beladenen Leuten im Treppenhaus, die alle behaupten, Cousins von Madame Renard zu sein. Unsere Miteigentümerin scheint also Cousins jeden Alters auf der ganzen Welt zu haben. Doch dazu später mehr. Folgende Eigentümer sind heute abwesend und haben mir Vollmacht erteilt: Madame Renard, Monsieur Mercier und Madame Merlino. Beginnen wir mit der Prüfung der Abrechnung für das vergangene Jahr.«
Vorsitzender des Verwaltungsbeirats – dieses Ehrenamt verdankte Hubert seiner herausragenden Kenntnis der Rue Edgar-Charellier Nummer 18: »Ich bin seit 1868 hier«, pflegte er zu sagen, was seine Gesprächspartner zu der Annahme verleiten konnte, dass Hubert die Grenzen der Zeit erstaunlich gut konserviert überwunden hatte – mit seinen hundertachtundvierzig Jahren würde man ihn auf knapp fünfzig schätzen. Mit diesem Satz, den er stets mit einem verständnisinnigen Lächeln begleitete, wollte Hubert ausdrücken, dass seine Familie dieses Haus zur Zeit der großen Haussmann’schen Umgestaltungen hatte erbauen lassen. Die Rue Edgar-Charellier