Antoine Laurain

Ein Tropfen vom Glück


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      Bob nickte bewundernd. »Der Name im elevator, das ist Ihrer?«

      »Ja«, bestätigte Hubert, »Anatole, mein Ururgroßvater, hier ist er«, fügte er hinzu und deutete auf ein Gemälde an der Wand, ein Porträt eines strengen alten Mannes mit Spitzbart und Uhrenkette, der sie mit dem Blick einer zornigen Möwe anstarrte.

      »Sie müssen die Geschichte des ganzen Viertels kennen«, meinte Bob.

      »O ja! Abbys Werkstatt zum Beispiel war vorher ein Teppichladen und noch davor eine Drogerie, die Drogerie Ménard & Filles, ich habe sie als Kind schließen sehen, sie wurde von Louise Ménard geführt, die nicht sonderlich freundlich war. Davor war es ein Geschäft für Lyoner Seidenstoffe, und als das Gebäude eingeweiht wurde, eine Antiquitätenhandlung namens Zum Goldenen Helm. Das Gebäude steht an der Stelle der Abtei Saint-Martin, die während der Revolution in Brand gesetzt und zerstört wurde. Es ist genau über der früheren Abteikirche erbaut worden.«

      »Diese Flasche hat auch eine Geschichte, Monsieur Larnaudie.« Damit platzte Julien plötzlich heraus, der bisher geschwiegen hatte.

      »Eine Geschichte? Ja, Julien«, antwortete Hubert, während er den Wendel in den Korken drehte, »sie ist sicher von meinem Großvater gekauft worden, er wird keine Zeit gehabt haben, sie zu trinken, und dann hat man sie dreiundsechzig Jahre lang unter dem Plunder des Kellers vergessen.«

      »Nein, ich meinte etwas anderes, Monsieur Larnaudie«, sagte Julien, »1954 hat sich über dem Weinberg Saint-Antoine etwas ereignet.«

      Hubert hörte auf, den Korkenzieher in die Flasche zu drehen, und alle sahen Julien an. Er begann zu erzählen. Auch wenn er sich geschworen hatte, nie wieder in Gegenwart einer Frau, die ihm gefiel, von fliegenden Untertassen zu reden, konnte er doch unmöglich von diesem Wein trinken, ohne die Geschichte und das Schicksal von Pierre Chauveau zu erwähnen. Vielleicht würde er in den Augen Magalies jede Glaubwürdigkeit verlieren. Nach der Eigentümerversammlung hatte sie ihn in ihre Werkstatt eingeladen und zeigte ihm gerade die zerbrochene Bacchantinnenstatue, als Bob an die Scheibe geklopft hatte. Julien spürte, dass zwischen ihnen eine Nähe im Entstehen war. Dass sie eine Schwelle überschritten hatten, und dass diese Nähe durch die Episode des Kellereinbruchs noch verstärkt worden war. Das stand auf dem Spiel, und er hatte das Gefühl, sich ohne Fallschirm ins Leere zu stürzen, als er mit seinem Bericht über die Nacht des 16. Septembers 1954 begann. Das Erscheinen des Raumschiffs über dem Weinberg von Jules Beauchamps, die Aussage bei der Gendarmerie, der Spitzname, mit dem sein Urgroßvater bedacht worden war, der herausragende Weinjahrgang, Spielbergs Film im Kino – Julien erzählte alles.

      »Und er ist mit seiner Hündin verschwunden?« fragte Hubert.

      »Ja, er wurde nie wieder gesehen. Meine Familie denkt immer noch, er sei in einem Teich ertrunken, aber er hat nie gesagt, dass er an diesem Tag Boot fahren wollte, und Ausweis konnte schwimmen. Sie hätte wiederkommen müssen.« Es entstand eine Pause.

      »Was für eine Geschichte!«, rief Bob schließlich aus. »In Milwaukee gibt es einen Mann, der sagen, er hat eine fliegende Ding gesehen … aber er sehr speziell. Man nennt ihn Jimmy der Irre, also zählt es nicht wirklich.«

      »Also ich glaube an fliegende Untertassen. Warum nicht? Es gibt ja auch Meteoriten«, meinte Magalie.

      Julien drehte sich langsam zu ihr um. Hätte er sich nicht zurückgehalten, hätte er sofort ein Knie auf den Boden gesetzt und um ihre Hand angehalten.

      »In meiner Familie gibt es auch einen Verschollenen«, knüpfte Hubert an, »auch wenn die Geschichte weniger originell ist als Ihre. Es handelt sich um Cousin Léonard, Léonard Larnaudie. Er wohnte im dritten Stock auf der Hofseite, meiner Wohnung gegenüber. Er hat in den dreißiger Jahren beschlossen, in Chile sein Glück zu machen, er hatte nie geheiratet, keine Kinder und nichts zu verlieren. Er war auch ein bisschen verrückt, glaube ich. Kurz und gut, fünf Jahre später hat er eine schlichte Postkarte aus Santiago geschickt, darauf nur ein Satz: Es ist vollbracht!, gezeichnet Léonard Larnaudie, dann haben wir nie wieder von ihm gehört. Ob er wirklich reich geworden ist? Niemand hat es je erfahren. Cousin Léonard ist in der Familie zu einer regelrechten Legende geworden. Seine Wohnung stand über fünfundzwanzig Jahre leer. Dann hat die Familie sie Ende der fünfziger Jahre für einen Apfel und ein Ei verkauft, um ihre Verluste durch die Suez-Kanal-Aktien auszugleichen.«

      »Öffnen wir sie?«, fragte Magalie und zeigte auf die Flasche.

      Hubert drehte den Wendel noch zweimal weiter, und der Korken sprang mit einem Plopp heraus. »Dieser Wein ist wirklich vielversprechend«, meinte der Hausherr, als er sich den Korken unter die Nase hielt. »Probieren wir ihn, ich hoffe, wir werden nicht verschwinden«, fügte er scherzhaft hinzu.

      Er schenkte jedem ein Glas ein. Alle schwenkten die Flüssigkeit und rochen daran, dann erhob Hubert das Glas, die anderen taten es ihm nach.

      »Liebe Freunde, wir werden mehr als einen Wein trinken«, begann er, »wir werden Zeit trinken. Eine Flüssigkeit, die seit 1954 in dieser Flasche eingeschlossen war. Diese Flasche wurde in einem ganz anderen Frankreich, einer ganz anderen Welt verkorkt als unserer. Wir haben die Vierte Republik, der Präsident heißt René Coty, die Leute schauen sich im Kino Filme mit Jean Gabin an, im Radio hört man Édith Piaf, nur wenige Franzosen haben ein Telefon, über ein Viertel der Bevölkerung lebt auf dem Land – das alles werden wir trinken. Auf die Zeit!«, sagte er und streckte sein Glas vor, und alle stieß unter Kristallklirren an.

      »Auf die Zeit! Zum Wohl!«, schloss Magalie sich an.

      »Und auf Frankreich!«, sagte Bob.

      »Sie haben recht, auf Frankreich«, stimmte Hubert zu, »auf den guten Wein und die Freundschaft!«

      »Er ist sehr gut«, sagte Magalie nach dem ersten Schluck.

      »Ich weiß nicht, ob es an der fliegenden Untertasse liegt, aber er erinnert an einen Chambolle-Musigny«, befand Hubert.

      »Ganz Ihrer Meinung«, bestätigte Julien.

      »Und Julien kennt sich aus, er ist Barmann in Harry’s Bar«, setzte Magalie für Bob hinzu.

      »In Harry’s Bar?«, rief Bob aus, »das ist sehr berühmt, da wollte ich einen Drink nehmen.«

      »Kommen Sie morgen vorbei, ich gebe Ihnen gern einen aus. Ich habe einen speziellen Cocktail erfunden: Heritage Days. Morgen ist der Tag des Kulturerbes. Da werden alte Busse, alte Autos hervorgeholt, man kann lauter Orte besichtigen, die sonst geschlossen sind, das wird Ihnen gefallen, Bob.«

      Der Kleiderschrank, das Bett, der Herd, der Kühlschrank, das Geschirrservice, die Badewanne mit Löwenfüßen … und dann dieses Little Book of the Apartment – »Handbuch für die Gäste der Rue Edgar-Charellier«, das gut sichtbar auf dem Plexiglassofatisch lag und Adressen und Fotos aller Restaurants, Lebensmittelläden, Bäckereien, Cafés, Banken, Métrolinien und Bushaltestellen der Nachbarschaft enthielt. Madame Renard machte tatsächlich keine halben Sachen und hatte die siebenunddreißig begeisterten Kommentare auf der Webseite wohlverdient. Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern in einer Flucht – Wohn- und Schlafzimmer –, dazu Küche, Bad und ein kleiner Balkon, auf dem zwei Stühle, ein Bistrotisch und eine Topfpflanze standen. In der Ferne meinte Bob zwischen den dunklen Umrissen der Wohnhäuser die Kuppel der Sacré-Cœur zu erkennen. Das würde er am nächsten Morgen bei Tageslicht überprüfen. Es war alles perfekt, und sein Paris-Aufenthalt begann unter den besten Vorzeichen. Es war ein Glücksfall, dass er so schnell zu jemandem nach Hause eingeladen worden war, und noch dazu von einem echten Pariser. Er hatte schon drei Bekannte im Haus, die bereit waren, ihm über die Stadt Auskunft zu erteilen. Goldie wäre stolz auf ihn gewesen. Bevor er sich eine nach zehn Flugstunden wohlverdiente Dusche gönnte, machte er sich daran, seinen Koffer auszupacken. Er nahm die Lederweste des »H.O. G., Chapter Eagles of Milwaukee« heraus und hängte sie sorgfältig über eine Stuhllehne. Dann öffnete er einen weißen Umschlag, den er die ganze Reise lang bei sich getragen hatte und der dreitausend Dollar in Hunderterscheinen enthielt – sein Taschengeld für die Woche in Paris. Gleich am nächsten Morgen würde er losgehen, um sie in Euro umzutauschen.

      Auf