nach ihr, richtete sich ächzend auf und hielt sie ins Licht der Lampe, die seit seinem Sturz leise schaukelte. Er wischte vorsichtig den Staub weg, das Glas wurde glänzend wie Tinte und auf dem Etikett war nun zu lesen: Château Saint-Antoine, 1954. Domaine Jules Beauchamps. Hubert kniff die Augen zusammen und betrachtete die Flüssigkeit im Licht – sie wirkte nicht getrübt, und vor der Glühbirne tanzten hübsche karmesinrote Reflexe. Die Flasche hatte auch nicht unter der zeitbedingten Verdunstung gelitten, dem Schwund, der poetisch als der »Anteil der Engel« bezeichnet wird. In diesem Moment spürte Hubert einen Luftzug, dann knallte die Tür heftig zu, und der Schlüssel drehte sich im Schloss.
Hubert erstarrte. Das Bild der nunmehr geschlossenen Tür brauchte gut anderthalb Sekunden, bis es zu seinem Bewusstsein vordrang.
»He! Was ist hier los?«, und er hörte wildes Getrappel im Flur.
»Los, schnell! Ich hab einen Typen eingeschlossen, wir müssen abhauen!«, hörte er aus der Ferne.
»He! Wer sind Sie? Machen Sie auf!«, schrie Hubert und hämmerte gegen die Tür. »Ich rufe die Polizei!«
Er griff mit der Hand in seine Jackentasche, um festzustellen, dass er sein Handy auf dem Küchentisch hatte liegenlassen. Jetzt war es also so weit. Die kaputten Türen der Kelleröffnung waren nicht unbemerkt geblieben, und er war im Keller eingesperrt, während diese Gauner die Keller seiner Nachbarn ausräumten.
»Ich rufe die Polizei!«, schrie Hubert erneut. »Die Wache ist nur zwei Straßen von hier entfernt!«
Er stieg über das Gerümpel seiner Vorfahren und stellte sich an das Lüftungsgitter, das auf den Hof hinausging.
»Ist da jemand?«, schrie er. »Hier ist Monsieur Larnaudie, es sind Einbrecher im Haus! Ich bin in meinem Keller eingesperrt! Madame Da Silva? Maria?«
Nur die Stille antwortete ihm. »Herrgott, sie ist schon wieder zum Essen bei ihrer Schwester«, fluchte Hubert. Und die anderen Hausbewohner hatten an diesem frischen Septemberabend alle ihre Fenster geschlossen und würden ihn sicher nicht hören.
Ich bin eingesperrt, dachte Hubert, eingesperrt in zwölf Quadratmetern. Der Gedanke nahm in seinem Geist Gestalt an. Die Möglichkeit, dass er die Nacht auf dem Gerümpel seiner Ahnen eingerollt verbringen müsste, war nicht mehr auszuschließen.
Das kleine Café schwirrte von Stimmengewirr, Besteckklappern und dem Zischen der Kaffeemaschine. Bob betrat mit seinem Koffer das L’Espérance – Café – Tabac – Kleine Speisen zu jeder Zeit, und ging auf die stattliche blonde Frau zu, die hinter der Kasse stand.
»Guten Abend, Madame, ich kommen das Schlüssel von Madame Renard abholen.«
Die Wirtin lächelte kurz, drehte sich zu einem dunkelhaarigen Mann um, der an der Zigarettentheke Dienst tat, und schrie: »Robert, wo hast du die Schüssel von Françoise?«
»In meiner Tasche!«
»Das ist keine Antwort, Robert!«
Robert steckte die Hand in die Tasche seiner Jeans, wand sich etwas, holte mit einem einzigen Griff ein Taschentuch, einen Schlüsselbund, ein Feuerzeug sowie ein paar Münzen hervor, die auf den Boden hinabregneten, um sodann feierlich auf seine Frau zuzusteuern und ihr mit spitzen Fingern den Schlüsselbund hinzuhalten: »Hier ist meine Antwort, Maryse.«
Als er sich der Nummer 18 näherte, bemerkte Bob zwei Männer, die ein Gemälde in einem reichverzierten Goldrahmen aus einer breiten Kelleröffnung herausmanövrierten, bevor sie in einen weißen Lieferwagen sprangen, der mit Vollgas davonfuhr. Bob schaute ihm nach und näherte sich dann den Metalltüren, warf einen Blick hinein, sah jedoch nur die Holzstufen einer steilen Treppe, die sich in der Dunkelheit verlor. Er klappte die Türen vorsichtig zu. Was sich da vor seinen Augen abgespielt hatte war nicht normal. Es sah ganz nach einem Einbruch aus. Er ging auf das Ladengeschäft des Hauses zu, K&R Kunst und Restaurierung – Magalie Lecœur. Es war beleuchtet, und durch die Gardinen des Schaufensters konnte er im hinteren Teil des Ladens zwei Gestalten erkennen. Es war spät, was würde er ihnen sagen? Er war Amerikaner, hatte sich über Airbnb im Haus eingemietet. Es war besser, Problemen aus dem Weg zu gehen.
Seine Wegbeschreibung noch immer in der Hand, tippte er den Türcode ein, trat in die Eingangshalle und ging zum Fahrstuhl. Er drückte auf den Knopf, die Kabine kam herunter und hielt. Bob ließ seinen Koffer stehen, um vorsichtig hineinzuschauen. Mit seinem nach Wachs duftenden Edelholz, den verglasten schmalen Türen, der zarten Deckenleuchte und den blumenförmigen Messinggriffen erinnerte das Gehäuse an nichts, was er auf dem Gebiet der Aufzugstechnik je gesehen hatte. Es war so schön wie eine sehr alte Harley. »Oh … my … gosh!«, entfuhr es ihm, als er die Inschrift von 1911 entdeckte, die jeden Benutzer auf Anatole Larnaudies großzügige Stiftung hinwies.
»Hier ist Monsieur Larnaudie! Ich bin eingesperrt! Helfen Sie mir!«, vernahm er jetzt.
Eine Sekunde lang fragte sich Bob, ob die zehnstündige Flugreise und der Jetlag ihm nicht vielleicht einen Streich spielten. Oder ob die Romane von Stephen King nicht letztlich doch einen Funken Wahrheit beinhalteten.
»Ist da jemand? Ich höre den Fahrstuhl!«
Bob schloss die Tür wieder und sah sich um. Die Stimme kam aus dem Hof. Dieser war voller Grünpflanzen und Gebüsch. Hinter einem Ficus in einem Topf entdeckte er auf Bodenhöhe ein beleuchtetes Gitter und das Gesicht eines Mannes. Bob beugte sich vor und sagte: »Guten Tag, Monsieur.«
»Wer sind Sie?«, antwortete Hubert pikiert, »haben Sie mich etwa eingeschlossen?«
»Nein, Monsieur, ich bin … der Cousin von Madame Renard«, artikulierte Bob sehr deutlich.
»Das ist gelogen!«, antwortete Hubert. »Sie sind nicht der Cousin von Madame Renard, aber sie kommen trotzdem gerade recht. Ich bin in meinem eigenen Keller eingeschlossen, Monsieur.«
»Ich verstehe, in the cellar«, sagte Bob und nickte.
»In the cellar, wie Sie sagen. Haben Sie gesehen, ob in dem Laden links neben der Eingangstür Licht brennt?«
»Ja, Monsieur, da ist Licht.«
»Dann bin ich gerettet«, seufzte Hubert. »Sie müssen Abby holen. Klopfen Sie an die Scheibe des Ladens und sagen Sie ihr, dass Monsieur Larnaudie in seinem Keller eingesperrt ist.«
»Okay, Abby, Larnaudie, Keller. Ich komme wieder«, sagte Bob im Davongehen.
»Sie sind sehr freundlich, Monsieur«, rief Hubert ihm aus seinem Gefängnis nach.
Bob klopfte kräftig an die Ladentür. Hinter den Gardinen bewegte sich eine der beiden Gestalten und öffnete ihm. »Oh!«, entfuhr es Bob, als er sie erblickte, »ich weiß, warum er Sie Abby nennt!«
»Wie bitte?«, antwortete Magalie.
»Ach, liebe Freunde! Ich danke Ihnen«, sagte Hubert, während er sich vor Magalie, Julien und Bob den Staub abklopfte. »Ich habe schon befürchtet, ich müsste die Nacht hier verbringen«, fügte er seufzend hinzu.
»Bob Brown aus Milwaukee, Wisconsin«, stellte sich Bob vor und streckte ihm die Hand entgegen.
»Mister Brown aus Milwaukee, ich danke Ihnen«, antwortete Hubert und schüttelte ihm die Hand. »Man muss wirklich sagen, Ihr Land kommt immer zur rechten Zeit, um uns zu retten«, setzte er hinzu. »Schauen Sie sich das an«, und dabei stellte er seine Weinflasche auf einem Stapel von Illustration-Ausgaben ab, ehe er auf zwei Kellertüren zuging, deren zersplittertes Holz davon zeugte, dass sie mit dem Brecheisen aufgestemmt worden waren. »Ich wusste es, ich hatte es ja gesagt. Es ist der Keller von Berthier und der von Madame Merlino, die ihn leerräumen wollte.«
»Bastards«, murmelte Bob, der ihm gefolgt war.
»Wie Sie sagen«, stimmte Hubert zu. »Abby, Monsieur Chauveau, gehen Sie nachsehen, ob Ihre Keller unversehrt sind.«
Magalie und Julien verschwanden im Flur.
Hubert war über diesen nächtlichen Einbruch empört und fühlte sich zudem tief gekränkt