erzählen. Was für ein Bild von Frankreich würde das vermitteln? Von Paris? Und insbesondere von der Rue Edgar-Charellier 18? Das Bild eines heruntergekommenen alten Kastens, der von den erstbesten dahergelaufenen Plünderern ausgeraubt wurde und dessen unbescholtene Bewohner in ihre Keller eingesperrt wurden wie Kaninchen.
»Unsere Keller sind unberührt, Monsieur Larnaudie!«, rief Julien vom Flur her, wo sein Schatten und der Magalies von den nackten Glühbirnen auf die Wände geworfen wurden.
»Immerhin«, brummte Hubert, »aber sie werden wiederkommen, sie kennen jetzt den Weg, sie oder andere, während wir alle schlafen.« Auf diese düstere Prophezeiung hin stieg er die Stufen der Holztreppe hoch und bewegte die Türen der Öffnung hin und her. »Unmöglich zu schließen«, fluchte er.
»Wofür sind der Treppe und der Tür zur Straße gut?«, fragte Bob.
»Für Kohlelieferungen«, antwortete Julien, »jeder Keller besaß ein Kohlenlager, und alle Wohnungen hatten in jedem Raum einen Kaminofen.«
Bob nickte bewundernd.
»Ich bleibe hier«, entschied Hubert seufzend.
»Das ist nicht Ihr Ernst, Sie wollen doch nicht hier übernachten?«
»Doch, Abby. Es soll niemand sagen, dass dieses Haus sperrangelweit offen steht, ohne dass jemand reagiert«, erregte sich Hubert. »In meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Verwaltungsbeirats und in Anbetracht meiner Familiengeschichte habe ich die Pflicht, die Verteidigung unseres Kulturerbes zu gewährleisten!«, schloss er emphatisch.
»Wait a minute, please.« Bob stieg nun ebenfalls die Treppe hoch und betrachtete den notdürftigen Verschluss der beiden Flügel der Kellertür. Er stieg wieder hinab und begann die ausgemusterten Gegenstände zu begutachten, die den Gemeinschaftskeller bevölkerten: Email-Waschtisch, Kleiderständer, Metallregale …
»Was tut er da?«, fragte Hubert, als Bob sich bückte, eine dicke Eisenstange aufhob und stolz hochhielt.
»Yes! Sie werden heute Nacht schlafen, Monsieur Larnaudie. Gestatten Sie?«
Hubert ging die Treppe hinunter und überließ Bob seinen Platz. Dieser untersuchte die Vorrichtung, durch die sich die beiden Flügel verriegeln ließen, und vergewisserte sich, dass deren Löcher dem Durchmesser der Stange entsprachen. »Ich verstehe«, meinte Hubert in müdem Ton, »aber das werden Sie nicht schaffen, man müsste die Stange zurechtbiegen, damit sie passt.«
»Ja«, bestätigte Bob, und er zog seine Jacke aus, unter der ein ärmelloses T-Shirt und Bizepse mit eindrucksvollen Tätowierungen zum Vorschein kamen, unter anderem ein Adler mit ausgebreiteten Flügeln, der einen Motorradreifen in den Klauen hielt.
Bob setzte sich auf eine Treppenstufe, ließ seinen Hals krachen, setzte seine Hände an beiden Enden der Stange an, atmete tief ein, presste die Kiefer zusammen und begann, die Metallstange zu biegen. Die drei anderen erstarrten und sahen zu, wie das Metall Zentimeter um Zentimeter nachgab, die Zähne zusammengebissen, als wären sie körperlich selbst an der Aktion beteiligt. Unter der Anstrengung traten Bobs Armmuskeln hervor, sodass der Kopf des Raubvogels sich bewegte. Julien fiel plötzlich der Name dieses Adlers wieder ein, den er durch einen Kunden von Harry’s Bar kannte: der Weißkopfseeadler, das Wappentier der Vereinigten Staaten. Begleitet von einem Ächzen, als Bob wieder Luft holte, erlangte die Stange eine perfekte U-Form. »Yep!«, seufzte er auf, als er das Ergebnis betrachtete, dann ging er zwei Stufen hoch. Die Stange glitt perfekt in die Löcher der beiden Flügel.
Die Kellertür war verschlossen.
»Monsieur …«, hauchte Hubert.
»Call me Bob.«
»Bob«, wiederholte Hubert sofort. »Zum zweiten Mal danke. Bob, ich will nicht, dass es heißt, Sie hätten all diese Flugstunden auf sich genommen, um in eine Lotterwirtschaft zu geraten und Eisenstangen zurechtzubiegen. Ich will, dass Paris, Frankreich und dieses Haus Sie würdig empfangen. Abby, Monsieur Chauveau …«, fuhr er fort und drehte sich zu Magalie und Julien um.
»Sie können mich Julien nennen«, warf Julien schüchtern ein.
»Einverstanden«, sagte Hubert, »also, Abby, Julien, Bob, ich lade Sie in meine Wohnung ein, um das Beste zu teilen, was dieses Land zu bieten hat: den Wein! Ich habe in meinem Keller eine Flasche gefunden.«
Hubert entfernte sich kurz und kam triumphierend mit seiner Flasche zurück: »1954, was sagen Sie dazu? Ich hoffe, er ist gut.«
Als Julien das Etikett sah, veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
Magalie war erst einmal im Wohnzimmer der Larnaudies gewesen, über drei Jahre zuvor. Sie erinnerte sich an ein nicht weiter originelles bürgerliches Interieur. Eines jener unwandelbaren Familiendekors, wie sie einem Milieu eigen waren, in dem Geld immer so selbstverständlich vorhanden war wie fließendes Wasser. Jeder, der sich hier hinsetzte und sagen konnte: »Ich bin zu Hause«, musste sich sicher fühlen, beschützt von etwas Ungreifbarem, Beständigem, das von jedem Quadratmeter des Raumes ausging. Vom Teppichboden und den Brücken auf dem Boden, den Stofftapeten an den Wänden, dem großen Sofa, den Louis-XVI-Sesseln, den Bildern und den Nippsachen auf der Kommode. Von dem traditionellen Kamin der Haussmann’schen Häuser, aus weißem Marmor, und der Bronze-Uhr, deren Bild von dem großen goldgerahmten Spiegel zurückgeworfen wurde. Magalie war überzeugt, wenn Hubert aus einem alten Familienalbum ein Foto seines Wohnzimmers herausnähme, das fünfzig oder hundert Jahre früher aufgenommen worden war, könnte man sich damit vergnügen, wie auf einem Fehlersuchbild die sieben Unterschiede zu suchen, die niemand auf den ersten Blick sieht, weil sich die beiden Bilder so sehr ähneln.
Für Hubert war es alles andere als normal, unvorbereitet ein paar Unbekannte – mit Ausnahme von Abby – zu sich nach Hause einzuladen, und er konnte nicht umhin, sich das Gesicht von Charlotte vorzustellen, wenn sie da gewesen wäre. Seine Frau, die sich um nichts anderes sorgte als darum, ob er »gegessen« habe. Er würde etwas viel Besseres tun: Er würde trinken. Mit netten Menschen einen guten Tropfen teilen. Endlich brach etwas Zufälliges und Unvorhergesehenes in diese trüben Herbsttage ein.
»Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte er und stellte den Wein auf den Sofatisch, »ich bin gleich wieder da.«
»Kann ich Ihnen helfen?«, bot Magalie an.
»Nicht doch. Abby und Julien, Sie setzen sich aufs Sofa, und Sie, Bob, nehmen den Ohrensessel.«
Der »Ohrensessel« stimmte Bob, der mitten im Raum stand, nachdenklich. Im Institut Français von Milwaukee hatte er etwas Französisch gelernt, aber Sessel und Ohren brachte er nicht zusammen.
»Ohrensessel«, sagte Magalie und klopfte auf die Armlehne des Möbelstücks.
Bob breitete die Arme aus – er gab es auf, verstehen zu wollen. Er setzte sich und ließ den Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Der Raum erinnerte ihn an die alten französischen Filme, die er gesehen hatte. Diesmal war das Bild in Farbe, und das, was er sah, war vollkommen anders als die Einrichtung seines Hauses in Milwaukee. Die Worte »Typically French« kamen ihm in den Sinn. »Alles ist sehr alt hier«, flüsterte Bob Magalie zu, die zustimmend nickte.
»Voilà!«, rief Hubert aus, als er ins Wohnzimmer zurückkam.
Er stellte vier Weingläser auf den Tisch, einen Teller mit Salzgebäck, und nahm den Korkenzieher zur Hand.
»Ich sagen, alles ist sehr alt hier, sehr typisch Französisch«, sagte Bob.
Und Magalie beugte sich zu Julien hinüber, um ihm augenzwinkernd zuzuflüstern: »Ich bin seit 1868 hier …«
Hubert, der dabei war, die Zinnkapsel aufzuschneiden, die den Korken schützte, hielt inne und schaute zu Bob: »Ich bin seit 1868 hier«, sagte er und sah dem Amerikaner direkt in die Augen.
Dieser murmelte die Jahreszahl vor sich hin und runzelte die Stirn. Hubert setzte sein gewohntes Lächeln auf. Magalie wechselte einen verständnisinnigen Blick mit Julien, der sofort wieder auf die Flasche schaute.
»Meine Familie hat dieses Haus bauen