Stefan Zweig

Seine schönsten Erzählungen und Biografien


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die weglosen Schluchten, ohne eine Siedlung, ohne eine menschliche Spur zu finden. Aber sie lassen nicht ab, denn die Berge funkeln an den brüchigen Stellen von blankem Metall, und die Erde leuchtet dunkelrot wie gesättigt von geheimnisvollen Kräften. Endlich winkt ihnen das Glück: der kleine Fluß Rio das Velhas, der von Ouro Preto nach Mariana in seinem ungeduldigen Lauf die Kanten der Berge abschürft, rollt in seinem Sande Gold mit sich, reines, volles Gold, und vor allem viel Gold; man braucht den Sand nur in hölzernen Schüsseln zu fassen und zu schütteln, und es bleiben die kostbaren Körner zurück. Nirgends auf Erden liegt im achtzehnten Jahrhundert das Gold so reich, so flach, so offen zutage als hier im brasilianischen Bergland. Einer der bandeirantes bringt die erste Beute im ledernen Säckchen nach Rio de Janeiro – damals zwei Monate entfernt, heute sechzehn Eisenbahnstunden – ein anderer nach Bahia, und sofort beginnt ein Sturm in die Wildnis, nur jenem bei der Entdeckung der Goldgruben Kaliforniens vergleichbar. Die Pflanzer verlassen ihre Zuckerplantagen, die Soldaten ihre Kasematten, die Priester ihre Kirchen, die Matrosen ihre Schiffe; auf Booten und Mauleseln und Pferden und zu Fuß drängt eine riesige Rotte heran und peitscht ihre schwarzen Sklaven mit; bald kommt der erste, der zweite, der dritte Zuzug aus Portugal, und allmählich sammeln sich solche Massen, daß eine Hungersnot auszubrechen droht in dieser Einöde ohne Viehzucht und ohne Vegetation. Ein wüstes Treiben hebt an, denn noch ist keine Autorität zur Stelle, das Gesetz zu verteidigen; leider fehlt uns der richtige literarische Augenzeuge, der brasilianische Bret Harte, um das Phantastische dieses ersten wildesten Tumults zu schildern, aber er muß ohnegleichen gewesen sein. Die paulistas, die ersten Entdecker, kämpfen gegen die emboabas, die fremden Eindringlinge. Nach ihrer Auffassung gehört ihnen das Gold allein als Lohn für die unzähligen Expeditionen, die ihre Väter, ihre Brüder vergeblich von São Paulo aus unternommen. Sie werden besiegt, aber das schafft keinen Frieden. Wo Gold ist, herrscht Gewalt. Mord, Raub, Diebstahl mehren sich von Stunde zu Stunde, und verzweifelt ruft der Priester Antonil in seinem ersten Bericht (1708) aus: »Kein vernünftiger Mensch kann einen Zweifel hegen, daß Gott in den Minen nur darum so viel Gold entdecken ließ, um damit Brasilien zu strafen.«

      Zehn Jahre und mehr herrscht in diesem verlassenen Gebirgstal ein vollkommenes Chaos. Endlich greift die portugiesische Regierung ein, um sich selbst ihren Anteil an dem Gold zu sichern, das diese zuchtlosen Abenteuerer entweder verschwenden oder auf Schleichwegen aus dem Lande schaffen. Ein Gouverneur, der Conde de Assumar, wird über die neue capitania eingesetzt und rückt mit Fußtruppen und Dragonern an, um die Autorität der Krone zu wahren. Eine seiner ersten Maßnahmen ist, daß, um eine genaue Kontrolle zu sichern, kein Staubkorn Gold mehr aus der Provinz geschafft werden darf. Alles Gold muß zunächst an das Schmelzhaus, das er 1719 errichtet, abgeliefert werden, in dem die Regierung gleichzeitig den ihr gesetzlich zustehenden Anteil – ein Fünftel alles gefundenen Goldes – sofort in Abzug bringen kann. Aber den Goldgräbern ist jede Art Kontrolle verhaßt. Was kümmert sie in ihrer Wildnis der König von Portugal? Unter Führung Filipe dos Santos rotten sich zweitausend Männer, die ganze weiße oder halbweiße Bevölkerung von Vila Rica, zusammen und bedrohen den Gouverneur, der – von der unvermuteten Revolte völlig überrascht – den Aufrührern in einem aufgenötigten Vertrag alle Forderungen bewilligt. Aber heimlich zieht er zugleich seine Truppen zusammen und überfällt nun seinerseits die Aufständischen nachts in ihren Häusern. Der Aufrührer wird gevierteilt, ein Teil der Ortschaft niedergebrannt und von nun ab mit den strengsten und sogar grausamsten Methoden Ordnung in Minas Gerais erzwungen. Langsam beginnen sich inmitten des arbeitenden, schöpfenden, tragenden, schüttelnden Ameisenhaufens von Sklaven und Goldwäschern aus erbärmlichen Lehmhütten und flüchtig gezimmerten Zelten die Konturen einer wirklichen Stadt abzuzeichnen. Um den Palast des Gouverneurs, das Schmelzhaus und das nicht minder zur geordneten Verwaltung wichtige Gefängnis ordnen sich steinerne Häuser, enge Straßen umschließen den Hauptplatz; allmählich erheben sich die Kirchen, und zugleich mit dem unermeßlichen Reichtum, der von den Fünfzig- und sogar Hunderttausenden robotenden Sklaven aus der Erde geschüttelt und gegraben wird, hält ein absurder Luxus Einzug in diese Städte – ein frenetischer, kindischer Luxus, der im grotesken Gegensatz zur Abseitigkeit und Weltverlassenheit dieses öden Gebirgstals steht. In Vila Rica und Vila Real und Vila Albuquerque wird im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts allein mehr Gold gewonnen als in ganz Amerika einschließlich des viel berühmteren Mexiko und Peru. Aber innerhalb dieser Wildnis ist für Gold wenig zu kaufen; gierig stürzen sich die unseligen Narren des Goldes darum auf jeden pompösen Tand, den die Händler mit hundertfachem Gewinn in diese unzugänglichen Bergtäler herankarren. Abenteurer, die gestern noch Bettler waren, stolzieren in grellen samtenen Gewändern, prahlen mit seidenen Strümpfen und zahlen für eine eingelegte Pistole zwanzigfach mit Dukaten, was dieselbe Ware in Bahia in Silbermünzen wert ist; eine hübsche Mulattin kostet mehr als am Hof des französischen Königs die teuerste Courtisane. Alle Berechnungen, alle Maße werden durch die Fülle des allzu leicht geförderten Metalls hier absurd; schmutzige Gesellen verspielen mit Würfeln und Karten in einer Nacht Beträge, mit denen man in Europa die kostbarsten Gemälde eines Raphael und Rubens erwerben könnte oder ganze Schiffe ausrüsten und die wundervollsten Paläste erbauen. Aber am liebsten kaufen sie, längst zu vornehm, selbst einen Spaten in die Hand zu nehmen, für ihr Gold Sklaven und Sklaven, damit sie ihnen mehr und mehr Gold scheffeln. Der Sklavenmarkt in Bahia kann gar nicht genug heranschaffen, die Boote können kaum all diese schwarze Fracht befördern. Und so wächst die Stadt von Jahr zu Jahr, schon sind die ganzen Hügel mit den Hausungen der schwarzen Arbeitstiere wie mit Termitennestern besät, schon verschönern sich die Häuser der Sklavenbesitzer und Goldausbeuter. Sie steigen sogar – Zeichen besonderen Reichtums – bis zu zwei Stockwerken und füllen sich mit Möbeln und Schmuck. Künstler kommen, durch den erträumten Verdienst angelockt, von den Küstenstädten, um Kirchen und Paläste zu errichten und die Brunnen mit Skulpturen zu schmücken. Ein paar Jahrzehnte noch solchen wirbelnden Aufstiegs, und Vila Rica muß die reichste, die schönste und volkreichste Stadt Amerikas werden.

      Aber ebenso irrlichthaft, wie er aufgetaucht, verschwindet der trügerische Zauber. Das Gold des Rio das Velhas war nur Schwemmgold, Alluvialgold gewesen, und nach fünfzig Jahren ist die kostbare Oberfläche abgeschöpft. Um das tückische Metall aus der Tiefe der Felsen zu holen, von denen Jahrhunderte oder vielleicht Jahrtausende es in unsichtbarer Arbeit zu Sand zerrieben haben, fehlen diesen primitiven Goldwäschern die Kraft, das Werkzeug und vor allem die Geduld. Eine Zeitlang versuchen sie direkt in den Felsen Stollen zu treiben, um an das kostbare Metall zu gelangen, aber die Mühe bleibt vergeblich, und bald verläuft sich der nomadische Schwarm. Die Neger werden in die Zuckerplantagen zurückgetrieben, einzelne der Abenteurer machen sich in der »matta«, den tiefergelegenen, fruchtbaren Tälern seßhaft; nach ein oder zwei Jahrzehnten sind die Goldstädte verlassen. Die Lehmhütten, wo die Tausenden von Sklaven hausten, sinken spurlos in die Erde zurück, Wind und Regen verschwemmen die Strohdächer, die sie deckten, die Häuser der Stadt selbst verwahrlosen, und durch fast zwei Jahrhunderte wird kein neues mehr gebaut: wie in den Zeiten des Anfangs ist es wieder eine Mühe, zu diesen verschollenen, vergessenen Orten zu gelangen.

      Bis zur gegenwärtigen Hauptstadt von Minas Gerais, der erst knapp in unserem Jahrhundert gegründeten Stadt, ist der Weg allerdings dank der modernen Technik leicht; ein Flugzeug schwingt einen in anderthalb Stunden von Rio de Janeiro zu dem Hochplateau von Minas Gerais hinüber, zu dem vordem die ersten bandeirantes zwei Monate wandern mußten und die Eisenbahn heute noch sechzehn Stunden benötigt. Diese neue Hauptstadt der Provinz, Belo Horizonte, ist – in Brasilien sind die eigenartigsten Varianten wie auf allen Gebieten auch auf dem des Städtebaus zu finden keine organisch gewachsene, sondern eine geplante, eine aus Willen, Überlegung und auf Jahrzehnte vorausblickender Berechnung geschaffene Stadt. Die ursprüngliche, die traditionelle Hauptstadt von Minas Gerais, das alte Vila Rica, das heute Ouro Preto heißt, zu modernisieren, hätte bedeutet, ein einzigartiges historisches Dokument brasilianischer Geschichte zu verderben; so entschloß sich die Regierung, lieber eine völlig neue Hauptstadt neben der alten zu konstruieren und zwar an der landschaftlich schönsten, geographisch wie klimatisch günstigsten Stelle. Ursprünglich sollte sie Cidade de Minas heißen, aber man zog vor, um ihres weiten Fernblicks willen – hier sieht man die schönsten Sonnenuntergänge Brasiliens – ihr den italienisch schönen Namen Belo Horizonte zu schenken. Aber längst vor der Namensgebung, längst ehe der erste Stein zur ersten Straße gelegt wurde, war diese Stadt in einem weit vorausblickenden Stadtplan völlig vorausmodelliert.