Stefanie Taschinski

Die kleine Dame melodiert ganz wunderbar (4)


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Hausmeister Herr Leberwurst, kleiner als Lilly und sogar ein Stückchen kleiner als Karlchen. Denn die kleine Dame, die vor zwei Sommern im geheimen Teil des Hinterhofs ihr weißes Zelt aufgebaut hatte und dort zusammen mit Chaka, ihrem tausendjährigen Chamäleon campierte, war nicht größer als ein ausgewachsener Kaiserpinguin. Sogar mit Tropenhelm maß sie weniger als einen Meter.

      Lilly konnte nicht sagen, was sie mehr überrascht hatte, als sie die kleine Dame zum allerersten Mal traf: die vielen exotischen Sprachen, die die kleine Dame aus dem »Effeff« beherrschte, oder ihre Fähigkeit, schwuppdich zu chamäleonisieren. Dazu brauchte sie bloß ihren Schirm aufzuspannen und sie nahm auf allerfeinste Weise die Farben und Muster ihrer Umgebung an.

      Die Tür zur Küche öffnete sich ein Stückchen und Pim, ihr schwarzer Hund, trottete auf sie zu.

      »Los, Hund, hol die Trödel-Elsen«, hörte Lilly die Stimme ihres Vaters.

      »Pim«, stieß Karlchen hervor und umarmte den Räuberhund. »Ach, mein lieber, lieber Pim.«

      »Mädchen, die Brezeln sind fertig!«, rief ihre Mutter.

      Da sprang Lilly auf und flitzte an Karlchen und Pim vorbei in die Küche. »Erste!«

      Mama Bär saß am Küchentisch und strich sich über den großen Bauch. »Guten Morgen, Zuckerschnecke«, sagte sie zu Lilly. »Guten Morgen, Schelmine«, sagte sie zu Karlchen und gab ihren Töchtern einen Kuss.

      Pim legte sich unter den Tisch auf Karlchens nackte Füße.

      Papa holte die Brezeln aus dem Ofen. »Achtung, die sind noch sehr, sehr ha…ha…heiß«, stieß er hervor und warf sie in den Brotkorb.

      Dann setzte er sich neben Mama an den Tisch. »Schatz«, beruhigte er sie. »Mach dir keine Sorgen. Wir werden etwas finden. Das verspreche ich dir. Und wenn ich dafür um die ganze Welt radeln müsste.«

      Lilly lächelte. Ja, Papa hatte Mama so lieb, dass er für sie sogar bis zum Mond radeln würde. Und das ist weit, sogar für einen Fahrradspezialisten wie Papa Bär.

      Mama Bär nippte an ihrem Fencheltee. »Aber du weißt doch, wie schwierig das heutzutage ist. Fast unmöglich!«

      Wovon sprachen die zwei eigentlich? Sie wollten doch nicht im Ernst so kurz vor der Geburt verreisen?

      Lilly gab einen Klecks Butter auf ihre Brezel. Sofort schmolz sie zu einem goldenen See. Zum Glück kosteten die Salafaris mit der kleinen Dame keinen Cent. »Mama, können wir eine Brezel für die kleine Dame aufheben?«, bat sie.

      Mama nickte.

      Papa schob Mama einige Papierbögen hin. »Sieh mal, was ich im Internet gefunden hab.«

      Mama blätterte durch die Papiere.

      »Die eine Wohnung hat sogar einen Südbalkon«, sagte Papa.

      »Welche Wohnung?«, fragte Lilly zwischen zwei Bissen.

      »Wer zieht um, Papsel?«, wollte Karlchen wissen.

      Mama hob den Blick von den Papieren und strich nervös über ihren Bauch. Papa räusperte sich und rutschte auf seinem Stuhl herum. »Also …« Er holte Luft. »Mama und ich …« Er sah Lilly an. »Du und Karlchen.« Er zeigte unter den Tisch. »Unser Hund, also … ich meine, wir alle zusammen, wir brauchen eine neue Wohnung.«

      »Eine neue Wohnung?«, wiederholte Lilly.

      Karlchen schüttelte den Kopf. »Wir haben doch eine. Sogar eine sehr hübsche!«

      »Ja«, nickte Mama. »Sehr hübsch und sehr klein.« Wieder strich sie sich über ihren Bauch.

      So klein nun auch wieder nicht, fand Lilly.

      »Stellt euch mal vor«, sagte Papa, »wenn das Baby größer wird. Dann reicht euer Kinderzimmer nicht mehr.«

      Mama zog Karlchen zu sich heran. »Genau«, bestätigte sie. »Dann platzt unsere Wohnung aus allen Nähten.« Sie tippte auf ihren Bauch und lachte ein bisschen. »Wie mein Bauch.«

      »Aber noch ist das Baby ja ganz klein«, stellte Lilly fest.

      »Das stimmt«, sagte Papa und legte den Arm um Lillys Schulter. »Wir schauen uns ja nur schon mal um, damit wir rechtzeitig etwas finden.«

       Unter der Käseglocke

      Den ganzen Vormittag über hatte Lilly sich wie ein Krümel unter einer riesigen Käseglocke gefühlt. Den Englisch-Test hatte sie in jedem Fall verhauen und von der Multiplikation vierstelliger Zahlen hatte sie sowieso nichts mitbekommen. Lilly konnte an nichts anderes denken als daran, dass Papa sich andere Wohnungen ansah. Andere Wohnungen! Dabei hatten sie das allerbeste Zuhause im Brezelhaus!

      Schnaufend trat sie in die Pedale und kämpfte gegen eine Regenbö an, die ihr entgegenblies. Mamas und Papas Worte trommelten laut in ihren Ohren.

      »Unsere Wohnung platzt aus allen Nähten«, hatte Mama gesagt.

      »Wir brauchen eine neue Wohnung«, hatte Papa gesagt.

      Lilly presste die Lippen aufeinander und strampelte noch schneller. Ein waschechter Hamburger Sommerregen hatte eingesetzt und den Stoff ihrer Jeans durchweicht. Egal, sie würde jetzt trotzdem nicht nach Hause fahren, sondern direkt die kleine Dame besuchen. Lilly bog in die Seitenstraße ein, in der das Brezelhaus stand. Der Regen hatte das Gold der Brezel blitzeblank gewaschen. Wie hell sie leuchtete! Sogar im Regen. Lilly schob ihr Rad in den schummrigen Torweg und lehnte es vor den Müllcontainern an die Wand.

      Risch-risch-tap fegte in diesem Moment der Hausmeister aus dem Hinterhof in den Torweg. »Ist das hier ein Fahrradparkplatz?«, schnauzte er sie ohne Vorwarnung an.

      Von Lillys Fahrradhelm tropfte es, Jacke und Hose klebten an der Haut, ihre Schuhe waren durchweicht. »Darf ich das Rad nicht fünf Minuten hier stehen lassen?«, bat sie.

      Aber die Leberwurst schnaubte. »Du räumst den Torweg frei! Dalli-dalli!«

      Heute ging aber auch alles schief! Widerwillig brachte Lilly das Rad nach vorn an die Straße, und während sie es mit klammen Fingern anschloss, rann ihr der Regen hinten in die Kapuze. Aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an!

      Mit zusammengebissenen Zähnen flitzte Lilly über den raspelkurzen Rasen, unter der Teppichstange hindurch und schlüpfte in die dichte grüne Ligusterhecke, die den Hinterhof des Brezelhauses in zwei Hälften teilte: den vorderen Teil, in dem die Leberwurst regierte, und den hinteren geheimen Teil, wo die kleine Dame campierte.

      »Kleine Dame!«, rief Lilly, kaum dass sie auf der anderen Seite aus der Hecke geklettert war. Sie sah sich nach ihr und ihrem Chamäleon um. »Chaka!«

      Das hohe Sommergras neigte sich unter den glänzenden Tropfen und der Regen prasselte unablässig auf das dichte Blätterdach der Büsche und Bäume. Wie im Regenwald, dachte Lilly, während sie die Zweige der alten Weide auseinanderschob. Ein Elbregenwald.

      »Kleine Dame, bist du hier?«, fragte sie, zog den Reißverschluss des weißen Zelts auf und hielt überrascht inne. Unmittelbar vor ihrer Nase pendelte Chakas gezackter Schwanz von der Zeltdecke. »Hey, Chaka«, begrüßte sie das Chamäleon und bückte sich, um ins Trockene zu gelangen.

      In der Mitte des Zelts hinter Gläsern mit bunten Federn, leuchtenden Glasscherben, sprießenden Blumenzwiebeln und einer silbernen Laterne blickte die kleine Dame von ihrem Salafaribuch auf.

      »Lilly! Hereinspaziert, hereinflaniert.«

      »Kleine Dame, ich muss dir was erzählen!«, sagte Lilly. »Mama und Papa wollen aus dem Brezelhaus aus…«

      »Eins nach dem anderen«, fiel die kleine Dame ihr munter ins Wort. »Mach es dir in meinem Sessel