bewegungsunfähig! Und verdammt nochmal, wo war denn meine Krankenpflegerin? Hatte sie das Versprechen „Bis, dass mich die völlige Hilflosigkeit nach exzessivem Sport lähmt“ vergessen?
Wollte ich nicht wie eine Sirene losschreien, um die ganze Nachbarschaft aufzuwecken, musste ich nun blitzschnell einen gescheiten Plan entwickeln. Während ich noch so darüber nachdachte, was ich überhaupt noch tun könnte, verdunkelte sich seltsamerweise nicht nur der Raum kurzfristig – auch musste mein Grübeln anscheinend auch einen Einfluss auf die Zeit gehabt haben. Denn ich war wohl kurz vor Erschöpfung wieder eingeschlafen. Als ich wieder zu mir kam, nahm ich den verhassten digitalen Schreihals wieder wahr. Und prompt kurbelte dieser meinen Blutdruck auf nahezu 400mm Quecksilbersäule an. Die 450mmhg reichten aus, um meinen inneren Schalter, der sich „grenzenlose Wut“ nannte, umzulegen. Nun nahm ich mir fest vor, Körperteil nach Körperteil wieder in die Bewegungskoordination mit einzubeziehen. Leider hatte auch das wiederum einen Effekt auf das Raum-Zeit-Gefüge. Denn die Kraftaufwendungen waren übermenschlich. Da wäre selbst Arnold Schwarzenegger neidisch geworden. Wieder waren einige Minuten vergangen. Unter einem brachialen Willen, den ich schon von meiner Büroarbeit kannte, schaffte ich es, mich mit dem kompletten Oberkörper aufzurichten, bis ich es nach beinahe einer weiteren halben Stunde aus dem Bett geschafft hatte und aufrecht im Badezimmer stand. Erst im Spiegel sah ich, dass ich vor Glückseligkeit wohl geweint haben musste.
Wie oft ich beim Ankleiden fast ohnmächtig wurde, kann ich nicht mehr genau sagen. Aber eins war klar: Ich musste mich nun beeilen, wollte ich noch halbwegs pünktlich sein. Frank hatte ich schließlich ebenso in eine realistische Zeitplanung miteinzubeziehen. Ebenso die hörgeschädigten Rentner, die bei jedem Abbiegevorgang gefährlich nahe vor meiner Motorhaube herumtanzten. Manch einer, dem der Rollator entglitt, griff schon nach meinem kleinen elektrischen Kleinwagen und ich war nur froh, dass Ole das alles nicht sah. Dann war ich endlich im Büro. Ein neuer, anstrengender Bürotag folgte.
Windows meldete sich nur dreimal, was mich fast dazu brachte, mein komplettes Arbeitspensum eines vollständigen, normalen Bürotages zu absolvieren. Auch der Forderung meines Chefs nach einer neuen Umsatzzahlengrafik kam ich heute ungewohnt locker nach. Das Sitzen war mehr als schmerzhaft und an eine Tiefenatmung in den Brustkorb hinein war kein Denken.
Nach einem ausgiebigen Büro-Mittagsschlaf ohne Alpträume schaffte ich sogar noch das Pensum, das ich mir heute Morgen vorgenommen hatte. Das lief schon fast alles zu gut. Was aber war den mit Hilde, meiner freundlichen und besorgten Kollegin los? Erst jetzt sah ich, dass Hilde vor dem Computer eingeschlafen war und ihr Kopf halb auf der Tastatur lag. Nur – warum lag sie da so komisch verdreht? Da stimmte doch irgendetwas nicht!
Das kannte ich so gar nicht von ihr, denn sie sorgte sich immer um eine bequeme Schlafposition. Unter großer Kraftanstrengung versuchte ich, sie wachzurütteln. Nur ein Grummeln war zu hören. Behutsam beugte ich sie im Stuhl nach hinten, um ihr eine angenehmere Position zu ermöglichen. Ich hörte ihre schwache Atmung und wusste, dass nun ein Notfall vorlag.
Mein Handy lag „Gott sei Dank“ in Griffweite und ich rief sofort den Notarzt, der versprach, in wenigen Minuten da zu sein. In der Zwischenzeit schaffte ich es, beruhigend auf sie einzureden. Der Notarzt traf ein und untersuchte sie zügig. Er gab Hilde Nitrospray und mir wurde erst jetzt klar, dass sie vermutlich einen Herzinfarkt erlitten hatte. Die Sanitäter hoben sie behutsam auf eine Trage und brachten sie in den RTW (Rettungswagen). Man hörte noch einige Zeit das allmähliche Verklingen der Sirenen, bis ich wieder die Fassung zurückerlangte und mir klar wurde, was gerade geschehen war. Hilde war fort. Der Raum wirkte auf einmal leer und trostlos ohne sie.
Hilde, über die ich mich häufig lustig machte, die ich manchmal übertrieben nachäffte. Die singende Hilde, die es schaffte, alle Worte auf so unnatürliche Weise zu dehnen, dass man so manches Mal regelrecht Angst bekam, wie weit sich Silben dehnen ließen, bevor sie zu reißen drohten. Können Worte wirklich reißen, überlegte ich tatsächlich gerade? So sehr ich Hilde manchmal verfluchte und ich mich über Kleinigkeiten aufregte – erst jetzt wurde mir klar, was sie wirklich für mich war. Was sie für mich bedeutete. Hilde war die gute Seele der Firma. Obowhl sie auf der einen Seite eine aufdringliche, andererseits aber auch eine absolut verlässliche und fürsorgliche Person war. Und sehr diskussionsfreudig.
Bei so manchem Kakao, ihrem Lieblingsgetränk, das sie immer aufschüttete und einem regelrecht aufzwang mit den Worten, „das hat meine Mutti mir auch immer als Kind gemacht, das tut uns beiden jetzt gut,“ startete sie so manche Diskussion. Ihr Kakao war ein so süßes und klebriges Gebräu, an das ich mich nur widerwillig erinnere. Mit ihm ließ sich gut und gerne ein komplettes Einfamilienhaus aus Pappkartonage, vielleicht sogar ein Steinhaus, kleben. Auch, wenn ich es mir nur schwerlich eingestehen wollte: Ich mochte Hilde genauso wie ihre freundliche Art, über die ich mir bis heute niemals ein richtiges Bild gemacht hatte. Das wurde mir erst spät klar. Und ich hoffte, dass es nicht zu spät war, ihr das einfach zu sagen.
Kapitel 7 – Wochenend / Sonnenschein
Eine wirklich anstrengende und aufregende Woche neigte sich dem Ende zu. Hilde, so erfuhr ich, hatte wirklich einen Herzinfarkt erlitten. Unsere Hilde. Einen schweren Hinterwandherzinfarkt, der eine langwierige Bypass-Operation notwendig gemacht hatte. Ihr wurden mehrere Stents (feine Röhrchen aus Drahtgeflecht) in die verengten Gefäße eingesetzt. Auch danach war ihr Zustand als durchaus kritisch zu bezeichnen. Sie lag eine kurze Zeit auf der Intensivstation, an vielen Schläuchen, und war vollständig intubiert – der Tubus sicherte ihre Atmung, die jetzt von einer Maschine übernommen wurde. Es war allein ihrer robusten Verfassung zu verdanken, so erfuhren wir vom Stationsarzt, dass sie alles so gut überstanden hatte. Nach kurzer Zeit ging es ihr dann zum Glück schon viel besser und man verlegte sie auf die normale Station zurück. Als wir Kollegen und Kolleginnen sie besuchen gingen, stellten wir erstaunt fest, dass eine Unmenge von Personen gekommen war. Nicht nur mir wurde jetzt klar, dass man Hilde wirklich zu schätzen schien. Alle kamen sie: ihre Freunde, Familie, Bekannte und was weiß ich, wer noch. Sie waren hierhergekommen, um Hilde zu sehen. Und einige der Kollegen, so vermutete ich, bloß um sich zu überzeugen, dass Hilde wieder zurückkommen würde, um ihre Arbeit zu übernehmen.
Nach zwei weiteren Wochen Klinikaufenthalt nahm die Anzahl der Besucher immer noch nicht ab. Die Bänke vor dem Krankenzimmer füllten sich so schnell, dass die Stationsschwester erwog, die Besucher in Gruppen aufzuteilen und ihnen jeweils eine eigene Besuchszeit zuzuweisen. Welch ein Glück, dass ich in der ersten Gruppe war und wir sie sofort besuchen konnten. Ohne Verzögerung. Hilde ging es den Umständen entsprechend wieder gut. Davon konnte ich mich nun überzeugen. Ich höre sie noch sagen, „Wolfi“ (das hatte letztes Mal meine Oma vor vielen Jahren zu mir gesagt, als sie noch lebte), „pass auf dich auf und überarbeite dich bitte nicht. So wie ich es getan habe,“ fügte sie hinzu. Ich versprach ihr, auf mich achtzugeben – mit dem Gedanken, den so wichtigen und herzschonenden Mittagsschlaf demnächst etwas auszudehnen. Körperliche Fürsorge und Achtsamkeit muss sein, sagte ich mir! Was hat der Arbeitgeber sonst von seinen Mitarbeitern, wenn alle Herzinfarkte bekommen vor lauter Stress? Hilde war das beste Beispiel. Sie war immer zur Stelle, konnte sehr schlecht nein sagen. Dafür prädestinierte sie sich in den Augen anderer, deren Arbeit einfach noch mitzumachen. Und wenn ein Funktionsprinzip einmal in dieser Art angelaufen ist, ohne, dass die Führungskraft einschreitet, dann ist das System nicht mehr zu stoppen. Es bleibt bei einem Lob von allen Seiten, wie fleißig und bewundernswert diese Person doch sei, Hilfe aber wird sie nicht bekommen. Und die Kollegen wussten ihr manipulatives Spiel nur zu gut zu spielen.
Wer einmal entdeckt hatte, dass Hilde eine tüchtige sowie überaus hilfsbereite Person war, der wusste, dass er sein Spiel mit meiner Kollegin spielen konnte. Ein Spiel, auf das Hilde naturgemäß ansprang. „Hilde, du weißt doch … das kriege ich nicht so gut hin wie du, vielleicht könntest du mir helfen?“ In der ganzen Zeit habe ich nicht einmal erlebt, dass meine Kollegin nein gesagt hätte. Hilde war eben ein mütterlich fürsorglicher Typ. Sie erweckte regelrecht den Eindruck bei ihren Kollegen, als ob sie deren Aufgaben übernehmen müsse. Erstaunlicherweise findet die gesamte Belegschaft immer sehr schnell heraus, dass da jemand in ihrer Umgebung ist, der in der Lage zu sein scheint, ihre Aufgaben einfach mit zu erfüllen. Und das nur, weil Hilde leider nicht nein sagen kann. Ich zähle dabei zu den wenigen Personen, die