Alfred Bekker

Patricia Vanhelsing Sammelband 5 Romane: Sidney Gardner - Übersinnlich


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seiner Jacke. Mit einer fast zärtlichen Bewegung strich sie ihm eine Schneeflocke weg.

      "Ihr nanntet mich Mary", flüsterte sie. "Ich werde nie vergessen, mit welcher Inbrunst ihr mir diesen Namen ins Ohr gehaucht habt... Mein Gott, es ist fast nicht zu glauben! Ihr seid wirklich hier. Endlich - nachdem ich mich so lange nach Euch gesehnt habe..."

      Sie näherte sich ihm noch weiter. Aber Tom fasste zart ihre Schultern und schob sie ein Stück von sich weg.

      "Ich bin nicht mehr Sir William Thomas Millroy", sagte er sehr ernst.

      "Natürlich seid Ihr es! Eure Seele mag einen anderen Körper gefunden haben, aber Ihr seid noch immer derselbe! Über den Abgrund von Zeit und Raum hinweg, habe ich Euch gerufen! Und Ihr habt hier hergefunden! Wenn das nicht eine schicksalhafte Fügung ist, dann weiß ich nicht, für welches Ereignis man diesen Begriff sonst gerechtfertigterweise verwenden könnte! Tom!" Sie sah ihn geradezu beschwörend an. Sehnsucht, Angst, Verzweiflung und - ja, auch Liebe spiegelten sich in ihren Augen. "Ihr gehört zu mir! Zu niemand anderem. Ich habe auf Euch gewartet... Eine Ewigkeit lang. Aber jetzt wird wieder Freude und Liebe auf Delancie Castle einkehren. Dieses Haus wird wieder aufblühen - durch Eure Gegenwart..."

      Tom wandte den Kopf in meine Richtung.

      Ich hatte das alles mit wachsendem Unbehagen mitangesehen. Die Art und Weise, wie Lady Mary von Toms Anwesenheit auf diesem Schloss sprach, ließ mich innerlich frösteln. Es hatte etwas Endgültiges.

      Tom trat auf mich zu.

      Er nahm mich bei der Hand. Dann drehte er sich in Richtung von Lady Mary.

      "Darf ich Ihnen Miss Patricia Vanhelsing vorstellen?", meinte er dann.

      Lady Marys bleiches Gesicht musterte mich mit kalter, unter der Oberfläche verborgener Leidenschaft. In Ihren Augen flackerte kurz etwas auf. Etwa, das ich nur als Hass identifizieren konnte.

      Ich reichte ihr die Hand.

      Sie zögerte.

      Dann gab sie mir die ihre.

      Sie fühlte sich eiskalt an. Wie die Hand einer Toten. Ein prickelndes Gefühl durchlief meinen Arm. Der kalte Schauer einer unheimlichen Kraft, die von dieser Frau auszugehen schien. Mir schauderte unwillkürlich. Sie war ohne Zweifel der Ursprung jener geistigen Energie, die ich zuvor gespürt hatte.

      Sie musste übersinnliche Kräfte besitzen.

      "Wir haben uns bereits einmal gesehen, nicht wahr?", sagte ich.

      Sie starrte mich an.

      Lady Mary antwortete nicht.

      "Erinnern Sie sich nicht? Vor dem Gebäude der LONDON EXPRESS NEWS in der Lupus Street, London... Es regnete. Sie starrten mich an..."

      Lady Marys Gesicht versteinerte.

      "Schon möglich", sagte sie dann kühl. "Aber ich erinnere mich nicht. Darf ich fragen, wer Sie sind und welche Rolle Sie in Toms Leben spielen?"

      "Ich bin Journalistin bei den LONDON EXPRESS NEWS."

      "Eine Frau als Journalistin? Sehr unwahrscheinlich." Ihr Lächeln bekam eine grausame Note. "Ich schlage vor, dass Sie versuchen, etwas intelligenter zu lügen, Miss Vanhelsing."

      "Es ist die Wahrheit."

      "Nun, wie auch immer. Ich lese schon seit Jahren keine Zeitungen mehr. Seit der Zeit, als..."

      "Als was?", fragte ich.

      "Seit die Zeitungen nicht sehr günstig über mich zu berichten begannen und nicht nur meinen Namen, sondern auch den meiner Familie hemmungslos in den Schmutz zogen." Ein kurzer Blick glitt zwischen mir und Tom hin und her. Dann setzte Lady Mary hinzu: "Aber Ihr Berufsstand ist nicht der einzige Grund, weshalb Sie nicht mit meiner Sympathie rechnen können, Miss Vanhelsing..."

      "Lassen Sie uns telefonieren, dann sind Sie uns schnell los!", sagte ich. Obwohl ich ahnte, dass das unmöglich war. Aber es war ein letzter, verzweifelter Versuch.

      "Telefonieren? Ich weiß nicht, was das sein könnte, Miss Vanhelsing. Aber eins steht fest: Sie können in dieser Winternacht nicht hinausgehen. Nicht so unzureichend - um nicht zu sagen, unzüchtig - angezogen, wie Sie jetzt sind. Nein, Sie beide werden meine Gäste sein...Es ist alles vorbereitet..."

      Wie sie das letzte Wort aussprach, gefiel mir nicht. Vorbereitet.

      Sie legte eine besondere Betonung hinein.

      Ehe ich etwas erwidern oder fragen konnte, brandete plötzlich Applaus im Salon auf.

      Ich hatte das Gefühl, Teil einer schlechten Inszenierung zu sein.

      "Was wird hier gespielt, Tom?", fragte ich verzweifelt in das Klatschen der anwesenden Herrschaften hinein, die plötzlich ihre Blickrichtung änderten. Ein junger, hochgewachsener Mann mit gelocktem Haar und einem dunklen Oberlippenbart betrat den Raum. Er trug einen Frack. An seiner Kleidung schien alles bis auf den Millimeter genau ausgerichtet zu sein. Das Stecktuch, die Brosche, die Schleife... Er wirkte etwas steif in seinem Auftreten. Sein Gesicht war von derselben, eigentümlichen Blässe wie das aller anderen im Raum.

      Er hob leicht die Hand, um die Ovationen entgegenzunehmen. Lady Mary hakte sich bei Tom unter.

      "Das ist Dostan Radvanyi, den der Kritiker der Times für den größten lebenden Pianisten hält. Selbst Chopin soll sich lobend über ihn geäußert haben... Lauschen wir seinem virtuosen Spiel..."

      Dostan Radvanyi verbeugte sich, schritt zum Flügel, setzte sich und begann dann in die Tasten zu greifen.

      Dissonante, unheimliche Harmonien, die einen an die Dunkelheit in der Tiefe der Meere oder den finsteren Schlund einer unergründlichen Höhle denken ließen, drangen an mein Ohr.

      Ich beobachtete die Gesichter der anderen Anwesenden. Sie wirkten angestrengt und sehr konzentriert. Lady Marys Blick wurde etwas verklärt. Sie wandte den Kopf und sah zu Tom herüber.

      Wo sind wir hier?, ging es mir schaudernd durch den Kopf. Auf Delancie Castle. Aber was bedeutet das schon? Der Name eines grauen Gemäuers, mehr nicht...

      Ich fühlte mich, wie in einem schrecklichen Alptraum gefangen.

      Aber gleichzeitig herrschte die Gewissheit in mir, dass ich aus dieser Alptraumwelt nicht durch ein einfaches Erwachen entkommen konnte.

      *

      LADY MARY SAH TOM AN.

      "Es ist spät geworden, aber ich bin überzeugt davon, dass wir noch viel Zeit haben werden." Sie seufzte. "Ich weiß, du wirst etwas verwirrt sein und es wird dir gewiss nicht leicht fallen, dich an das Leben auf Delancie Castle zu gewöhnen."

      "Sie irren sich, Lady Mary", sagte Tom. "Ich werde nicht hierbleiben. Es mag sein, dass ich dich geliebt habe in einem anderen Leben. Aber jetzt bin ich nicht mehr Lord William Thomas Millroy, sondern Thomas Hamilton, ein Mann, der in einer anderen Zeit lebt. Und eine andere Frau liebt."

      "Das alles hat keine Bedeutung", behauptete Lady Mary Delancie mit einem Lächeln, dessen Süßlichkeit durch eine grausame Note verwässert wurde. "Wie gesagt, Tom. Du bist verwirrt. Aber du wirst noch erkennen, was deine wahre Bestimmung ist. Heute Nacht jedenfalls wirst du hier bleiben, denn es gibt keine Möglichkeit zur Rückkehr. Und das wisst ihr!" Sie machte eine kurze Pause. Ihr Blick wirkte ernst. Sie atmete tief durch. Sie hatte mit einer Bestimmtheit gesprochen, die mich erschreckte.

      Als ob bereits jetzt feststünde, das alles genau so geschieht, wie sie es gesagt hat!, ging es mir schaudernd durch den Kopf.

      Dann sagte sie schließlich: "Der Butler wird euch eure Quartiere zeigen."

      Der Butler trat etwas heran.

      Sein Gesicht blieb wie gewohnt regungslos und maskenhaft.

      "Wenn die Herrschaften mir bitte folgen wollen",