Alfred Bekker

Patricia Vanhelsing Sammelband 5 Romane: Sidney Gardner - Übersinnlich


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      Und dazu gehörte zweifellos auch all das, was mit Lady Mary, ihren Kräften und ihrer grauenhaften Zwischenwelt zu tun hatte.

      Pferdegetrappel ließ mich erneut aufhorchen.

      Ich stand da wie erstarrt.

      Der dunkle Schatten eines Reiters kam jetzt direkt auf mich zu.

      Der Puls schlug mir bis zum Hals.

      Der Reiter kam im vollen Galopp heran. Die scharfen Hufe wirbelten Erde empor. Das Pferd dampfte in der Kälte. Immer deutlicher waren die Konturen zu sehen. Er trug einen Zylinder. Der Umhang wehte wie ein dunkler Schatten hinter ihm her.

      Es musste Willard sein!

      Unter dem Zylinder blickte mich ein Totenschädel aus leeren Augenhöhlen heraus an. Ich schluckte und stand wie erstarrt da. Der Reiter näherte sich etwas langsamer, nachdem er sein Tier gezügelt hatte.

      Er wandte den Kopf, beugte sich etwas vor und tätschelte leicht den Hals des Pferdes. Sein grinsendes Totenschädel Gesicht lag dabei für einen Moment im Schatten. Als der Reiter sich im Sattel wieder aufrichtete, hatte er ein menschliches Gesicht.

      Ich erkannte es sofort wieder.

      Dieser Mann war Willard Delancie.

      Seine Haut war so blass wie das seiner Schwester - und auch sonst war die Ähnlichkeit nicht zu übersehen.

      Er sah mich an.

      "Sie sind Willard Delancie, nicht wahr?", sprach ich ihn an. Sein Lächeln blieb verhalten.

      "Das ist wahr."

      "Ich habe Sie aus dem Fenster eines der Gästezimmer gesehen. Sie brachten einen Strick und riefen nach Lady Mary..."

      Willard stieg von seinem Pferd herunter. Er war etwas größer als ich. Seine Augenbrauen zogen sich zu einer geschlängelten Linie zusammen. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, als ob eine geistige Kraft mich berührte. Aber diese Berührung unterschied sich deutlich von der Empfindung, die ich in Lady Marys Anwesenheit gehabt hatte.

      "Sie gehören nicht hier her."

      "Das hat Ihre Schwester mir deutlich zu machen versucht."

      "Mit wem habe ich das Vergnügen?"

      "Mein Name ist Patricia Vanhelsing. Sie hier zu sehen beruhigt mich irgendwie..."

      "In wie fern?", fragte Willard.

      "Weil ich annehme, dass ich mich immer noch in jener seltsamen Zwischenwelt befinde, deren Zentrum Delancie Castle darstellt."

      "Da haben Sie allerdings recht. Obgleich - wie gesagt, Sie gehören nicht hier her. Mary und ich allerdings auch nicht. Sie müssten in die Sphäre der Lebenden zurückkehren."

      "Nicht ohne Tom!"

      "...und meine Schwester und ich hätten längst in die Sphäre der Toten eingehen müssen, um dort unseren Frieden zu finden."

      "Warum ist das nicht geschehen?", fragte ich. Willard Delancie lachte heiser.

      "Weil meine Schwester sich um das Glück ihres Lebens betrogen fühlte. Weil sie den unbändigen Willen hatte, auch über den Tod hinaus nach der Seele desjenigen zu suchen, den sie über alle Maßen geliebt hat. Ich habe damals nicht sehr viel von Lord Millroy gehalten. Vielleicht habe ich die Gefühle meiner Schwester unterschätzt."

      "Sie hat dafür gemordet!"

      "Ja, das hat Sie. Wer hat Sie so gut informiert? Der Mann, mit dem Sie diese Welt betraten?"

      "Er ist eine Wiedergeburt Lord Millroys."

      "Ich weiß."

      "Sie sind gut informiert!"

      "Es gibt hier keine Geheimnisse, Patricia - ich darf Sie doch so nennen? Und es gibt in dieser seltsamen Welt nur vier Personen, die wirklich existieren. Sie, Ihr Begleiter, meine Schwester und ich."

      "Alles andere ist Illusion?"

      "Nein, ganz so einfach ist es nicht. Es sind nicht einfach Trugbilder, sondern Dinge, die ein starker Geist geschaffen hat und die er jederzeit nach seinem Willen verändern kann."

      "Ihre Schwester wurde durch Ihre starke Liebe daran gehindert, ins Totenreich einzugehen. Woran hat es bei Ihnen gelegen, Willard?"

      "Vielleicht der Fluch meiner Tat... Ich überantwortete meine Schwester dem Henker. Ich muss zu meiner Schande gestehen, es nicht aus Gerechtigkeitsliebe, sondern aus Gründen des Eigennutzes getan zu haben. Nach Marys Tod hat mich der Gedanke an sie immer verfolgt. Nachts sah ich sie in meinen Träumen, sah den Strick um ihren Hals, ihr bleiches Gesicht... Nachdem ich selbst gestorben war, wurde meine Seele wie magisch von dieser Zwischenwelt angezogen. Ich kann keinen Frieden finden, solange sie ihn nicht findet! Und so vagabundiere ich durch diese nebelige Ödnis. Mary hasst mich, aber sie kann mich nicht völlig aus dieser Welt vertreiben - so wie sie es auch bei Ihnen wohl nicht vermochte. Vermutlich liegt das an den übersinnlichen Energien, die ich bei Ihnen erspüre..."

      "Was ist mit mir geschehen? Ich hatte das Gefühl, mich aufzulösen und bin in einen Strudel aus Bildern und Licht hineingestürzt..."

      "Mary hat Sie mit Hilfe ihrer Energien hier materialisieren lassen, an diesem äußersten Rand ihrer Welt..."

      "Warum hat sie mich nicht endgültig vernichtet?"

      "Weil das hier, in dieser Welt nicht möglich ist. Nichts geht verloren. Keine Energie, kein Körper, keine Seele... Was geschehen kann, ist eine Verwandlung. So wie sich ein toter Körper in Erde verwandelt, aus der neues Leben entsteht..."

      "Sie scheinen ein Philosoph zu sein..."

      "Erst, seitdem ich hier, an diesem öden Ort zwischen Leben und Tod bin..." Er lächelte matt. "Ich hatte Zeit genug..." Ich atmete tief durch.

      "Ich brauche einen Verbündeten", erklärte ich.

      "Sie dachten da nicht zufällig an mich?" Er lachte rau.

      "Haben Sie die Hoffnung, Frieden zu finden, denn schon aufgegeben?"

      Er zuckte die Achseln.

      "Meine Kräfte reichen nicht aus, um meiner Schwester Paroli zu bieten. Ich kann sie nicht zwingen, ins Totenreich einzugehen. Und überzeugen werde ich sie auch kaum."

      "Vielleicht sind wir gemeinsam stark genug!"

      "Sie überschätzen Ihre mentalen Kräfte, Patricia!"

      "Es käme auf einen Versuch an, finden Sie nicht? Es ist doch kein Risiko dabei. Waren Sie es nicht, der behauptet hat, dass Mary hier niemanden wirklich vernichten kann?"

      "Für Sie bestünde trotz allem ein großes Risiko", erklärte Willard düster.

      "Für mich? Weshalb?"

      "Ich weiß nicht, was geschieht, wenn Mary Sie erneut entmaterialisieren lässt..."

      "Dann werde ich hier wieder aufwachen und es erneut versuchen!"

      "Sie sind hartnäckig und mutig", erwiderte Willard. "Der Mut einer Ahnungslosen..."

      "Was soll das heißen?"

      Er musterte mich. Sein Blick war kühl. "Es könnte sein, dass Sie sich auf eine Weise verwandeln, die verhindert, dass Sie in die Sphäre der Lebenden zurückkehren können..." Bei diesen Worten lief es mir kalt den Rücken hinunter.

      "Ich werde das Risiko eingehen! Schließlich ist der Mann, den ich liebe, noch immer ein Gefangener auf Delancie Castle..."

      "Ich weiß nicht, ob man es Mut oder als Wahnsinn bezeichnen soll, was Sie tun wollen."

      "Bringen Sie mich zum Schloss oder sagen Sie mir wenigstens, wo es ist!"

      "Was wollen Sie dort, Patricia? Meiner Schwester den Mann entreißen, dessentwegen ihr Geist so ruhelos geblieben ist?"

      "Es