Frau.
Irgend etwas war an ihr, das meinen Blick unwillkürlich fesselte.
Und gleichzeitig spürte ich jenes charakteristische Unbehagen, das stets mit meinen Ahnungen einherging. Ich lief nicht weiter, stand nur da und riss die Augen auf. Eine junge Frau mit blondem, fast schulterlangem Haar und einem Gesicht, das hübsch und feingeschnitten war. Aber bleich. So blass wie das Antlitz einer Toten. Wie aus Elfenbein modelliert wirkte dieses Gesicht. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag vor den Kopf, dass ich niemand anderen vor mir hatte, als jene Frau, die ich Traum gesehen hatte.
Ihr Kleid war fast knöchellang. Es war dunkelrot und reich verziert. Es entsprach nicht dem, was derzeit modern war. Ich glaubte zu erkennen, dass es aus schwerem Samt oder einem ähnlichen Stoff gefertigt war. Ein Winterkleid, das überhaupt nicht in die Jahreszeit passte.
Aber das schien die bleiche Frau nicht zu kümmern. Obwohl es seit Einsetzen des Regens etwas abgekühlt hatte, war es noch immer sommerlich warm. Viel zu warm für so ein Kleid.
Die bleiche Frau schien das ebenso wenig zur Kenntnis zu nehmen wie den Regen, der auf sie hernieder prasselte und immer stärker wurde.
"Heh, Sie!", rief ich.
Sie schien mich nicht zu hören.
Ich kniff die Augen etwas zusammen.
Seltsam, dachte ich. Der Regen schien sie nicht zu berühren. Die Haare hätten ihr genau wie mir längst tropfnass am Kopf kleben müssen. Aber das war nicht der Fall. Ich fühlte, wie mir der Puls bis zum Hals schlug. Ich winkte ihr zu.
Sie wandte den Kopf in meine Richtung. Ihr Blick schien traurig, fast schmerzvoll zu sein.
Ein kalter Schauder ging mir über den Rücken. Eine Aura des Todes schien sie zu umgeben. Ich lief los. Direkt in ihre Richtung. Ich musste einfach wissen, wer sie war und was sie hier, vor dem Gebäude der LONDON EXPRESS NEWS wollte. Es muss eine Bedeutung haben, dass sie hier ist, durchfuhr es mich. Ich spürte es. Ganz deutlich. Vor meinem inneren Auge war dann wieder jene Traumsequenz präsent, in der ich sie mit dem Strick um den Hals gesehen hatte.
Dem Strick des Henkers...
Ich lief immer schneller, weil ich das Gefühl hatte, dass sie mir ansonsten entwische. Wie ein Schatten, ein Geist, ein flüchtiges Gas, das sich mit Händen nicht greifen lässt...
Ich rutschte aus, taumelte kurz, konnte mich aber auf den Beinen halten. Eine Moment lang hatte ich zu Boden geblickt und die bleiche Frau aus den Augen verloren.
Jetzt sah ich auf, ließ den Blick schweifen und... Wo ist sie?, ging es mir durch den Kopf.
Panik stieg in mir auf.
Ich glaubte, mein Herz schlagen hören zu können. Hektisch ließ ich den Blick umherschweifen, während im Hintergrund die Geräusche des Londoner Straßenverkehrs zu hören waren.
Sie ist weg!
Ich wollte es nicht wahrhaben, lief mit schnellen Schritten zu jener Stelle, an der ich sie gerade noch gesehen hatte. Aber von der bleichen Frau war nirgends etwas zu sehen. Keine Spur.
Vielleicht hast du nur geglaubt, sie zu sehen, ging es mir durch den Kopf. Eine Halluzination, mehr nicht... Ich mochte nicht so recht daran glauben. Durch meine übersinnliche Gabe hatte ich zwar hin und wieder Visionen, aber im allgemeinen wusste ich sehr genau zwischen Vision und der Realität des Hier und Jetzt zu unterscheiden. Ganz auszuschließen war diese Möglichkeit natürlich nicht. Und dann war da noch ein anderer, schrecklicher Gedanke, der langsam aber sicher an die Oberfläche meines Bewusstseins stieg, obwohl ich ihn weiß Gott lieber unter der Oberfläche gehalten hätte.
Was, wenn du die Kontrolle verlierst, Patti?
Das Grauen erfasste mich und legte sich wie eine eisige Hand um mein Herz. Das Gefühl von Enge und tödlicher Bedrohung machte sich in mir breit. Ein Gefühl, als ob ich dem Ersticken nahe war. Ich atmete tief durch.
Du wärst nicht die erste, die über eine außersinnliche Begabung verfügt und daran zerbricht, rief ich mir ins Gedächtnis.
In Tante Lizzys Archiv fanden sich Dutzende von Pressemeldungen und Berichte über derartige Fälle. Menschen, die über besondere, parapsychische Begabungen verfügt hatten, dann in die Fänge von Geheimdiensten oder okkulten Zirkeln geraten waren und schließlich mehr oder minder wahnsinnig geworden waren.
Es war ein schmaler Grad, auf dem ich wandelte. Nicht erst seit heute.
Aber zuvor war es mir meistens nicht so bewusst gewesen. Ich blickte in den grauen Regen.
Meine Kleider klebten mir am Leib, und ich musste niesen. Es hat keinen Sinn!, durchzuckte es mich. Ich gab mir einen Ruck, drehte mich herum und ging in Richtung meines 190er Mercedes.
Und doch...
Wer war sie?
Diese Frage blieb.
Und während ich Schritt für Schritt vorwärts ging, hatte ich das Gefühl, als würde ich im selben Moment beobachtet... Ich glaubte, den Blick eines totenblassen Gesichts auf meinem Rücken spüren zu können. Ich drehte mich herum, aber da war niemand zu sehen.
Ein Unbehagen blieb...
Ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Und die Ahnung, dass ich die bleiche Lady nicht zum letzten Mal gesehen hatte...
*
ALS ICH ZU HAUSE EINTRAF, stand ein Wagen in der Einfahrt von Tante Lizzys Villa. Es war der Lieferwagen eines Schreinermeisters und ich fragte mich, wofür Tante Lizzy ihn wohl bestellt haben mochte. Das Parkett in der Bibliothek sah nicht mehr besonders gut aus, aber wenn es ausgewechselt werden sollte, bedeutete das unter anderem auch, dass sämtliche Bücher in der Zwischenzeit anderswo gelagert werden mussten. Und das konnte ich mir nun beim besten Willen nicht vorstellen.
Erstens befanden sich in Tante Lizzys Sammlung okkulter Literatur so seltene und kostbare Lederfolianten, dass ich mir kaum denken konnte, dass Tante Lizzy sie etwa im Keller zwischenlagern würde. Zumal sie einen Großteil dieser Bücher selbst liebevoll restauriert hatte! Und zweitens füllte Tante Lizzys Sammlung so gut wie die ganze Villa aus und selbst im Keller wäre kaum noch genügend Platz gewesen.
Meine okkultfreie Zone!, ging es mir dann siedendheiß durch den Kopf.
Vielleicht hatte Tante Lizzy daran gedacht, die Stapel von staubigen Büchern in der Zwischenzeit in meinen Räumen zu lagern!
Ich dachte mit Schrecken daran.
Der Staub würde mich vermutlich unablässig niesen lassen. Ich ging zur Haustür, trat ein und ging den Flur entlang. Aus der halboffenen Tür zur Bibliothek hörte ich die Stimmen von Tante Lizzy und einem Mann.
Ich kam näher, blickte durch den Spalt und sah, wie beide sich an dem eigenartigen antiken Schreibtisch zu schaffen machten, den Tante Lizzy vor einiger Zeit erworben hatte. Der Schreibtisch hatte an den Ecken jeweils furchteinflößende Schnitzereien. Köpfe mit zahnbewehrten, weit aufgerissenen Mäulern, die groteske Kreuzungen zwischen menschlichen und tierischen Elementen zu sein schienen. Angeblich sollte sich im Inneren dieses antiken Stücks ein Geheimfach befinden und Tante Lizzy versuchte schon seit längerem vergeblich, dessen Geheimnis zu lüften. Bislang war ihr das allerdings trotz aller Mühe nicht gelungen.
Offenbar hatte sie sich nun einen Spezialisten ins Haus geholt, der zumindest etwas mehr von Möbelstücken verstand, als sie selbst.
Der Tischler hantierte an dem guten Stück herum, und Tante Lizzy zeterte lautstark herum. Sie befürchtete offenbar, dass der Tischler zu grob damit umging und eventuell die kostbaren und in ihrer Skurrilität wirklich einzigartigen Schnitzereien beschädigt würden.
"Mr. Groves! So seien Sie doch etwas vorsichtiger!"
"Ma'am, ich gehe seit Jahrzehnten mit Holz um und