Michael Reh

Katharsis. Drama einer Familie


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Ehejahr ihrer Eltern, Mitte der sechziger Jahre. Ihre Kindheit und Jugend inspiriert von Led Zeppelin, Dirty Dancing und dem Post-sechziger-Jahre-Feeling.

      Man hätte sie damals fast als unkonventionell bezeichnen können, auch wenn sie, zum Leidwesen ihres Vaters, nicht sehr gebildet war. Er hütete sie wie seinen Augapfel, konnte aber nichts dagegen tun, dass sie sich zur Dorfdiva entwickelte. Sie behandelte ihn liebevoll und gleichzeitig kalkuliert.

      Sie schmierte jedem gekonnt Honig um den Bart oder in die Betonfrisur und keiner kam auf die Idee, dass sie am Ende immer genau das bekam, was sie wollte.

      Der unbekümmerte Teil des Lebens der Goldmarie ging rasch und unerwartet zu Ende. Was damals im September 1987 geschehen war, blieb ein wohlbehütetes Geheimnis. Eines von vielen dreckigen, zerstörerischen Geheimnissen, die dazu führten, dass Marie Max anrief. Er hatte seit über zwanzig Jahren nicht mit ihr gesprochen und hätte doch selbst im tiefsten Urwald ihre getrommelte Stimme unter Tausenden sofort wiedererkannt.

      »Hallo, sprechen Sie Deutsch, könnte ich bitte mit Max sprechen?«, sagte die Stimme aus der Vergangenheit.

      Max gab nicht der Versuchung nach, sich als seine Haushälterin oder einen anderen Dienstboten auszugeben, sondern versuchte, dem Vulkan, der in Sekundenschnelle aufloderte, Einhalt zu gebieten.

      »Ja, Marie, hier ist Max«, war alles, was er herausbrachte.

      »Es tut mir leid, dass ich dich störe«, sagte die so vertraute Stimme, die dennoch wie aus einer Lichtjahre entfernten Sternengalaxie klang, »aber es ist etwas Furchtbares passiert.« Ihre Stimme versagte. Max’ Magen verkrampfte sich.

      »Hallo Marie, bist du noch dran, was ist denn los?«, aber außer einem Schluchzen war nichts mehr zu hören.

      Eine fast vergessene Wut und ein nicht gekanntes Schwindelgefühl überkamen Max. Die Heulattacken seiner Schwester hatten sich früher oft stundenlang hinzogen und zu keinem Ergebnis geführt, außer, dass Marie ihren Willen bekam.

      »Marie, wenn du mir nicht sagst, warum du mich anrufst, hänge ich sofort auf«, sagte er.

      »Nikolas ist wegen Mordes verhaftet worden!«, schluchzte die Stimme aus der fernen Galaxie.

      Es gibt Momente, da verläuft das Leben nicht mehr linear, da gibt es kein Gestern, Heute oder Morgen. Alles ist gleichzeitig. Raum und Zeit verbinden sich zu einem einzigen großen Moment und alle alten Narben sind wieder wie frisch geschlagene, blutende Wunden. Oft kennt man solche Momente nur aus Träumen, wenn sich das Bewusstsein nicht vor der Vergangenheit schützen kann.

      Max fühlte sich wie Jesus am Kreuz, gemartert, blutend mit der Dornenkrone auf dem Haupt und festgenagelt, ohne die geringste Chance, entfliehen zu können. Dieses Gefühl war so stark und übermächtig und zog ihn auf eine Bewusstseinsebene, die er dachte, längst vergessen zu haben, oder die in jahrelangem Wegdrücken durch Drogen aus seinem Gehirn weggeätzt schien.

      An diesem Freitag, auf einer staubigen und überhitzten Straße in Soho auf der Insel Manhattan, inmitten Tausender Menschen, wurde er zum dritten Mal in seinem Leben ohnmächtig.

      3

      Der Anfang

      Max’ Vater, Herrmann, wurde als jüngstes von vier Kindern geboren. Seine Mutter Magdalena war eine verarmte Adelige aus Pommern, die sich während eines Besuchs bei Verwandten im Ruhrgebiet unsterblich verliebt hatte.

      Dass das Objekt ihrer Begierde kein Geld hatte, war der 18-jährigen Magdalena von Rasatz egal und somit verlor Deutschland in jenem Sommer nicht nur den ersten Weltkrieg, sondern Max’ Großmutter auch ihre Unschuld an Paul, einen Bergarbeiter, auf einer der zahlreichen Zechen in einem Kaff im Ruhrgebiet namens Schwarzhausen.

      Ihre Hingabe an den stattlichen Paul Wilde hatte zur Folge, dass sie von ihrer Familie verstoßen und enterbt wurde. Letzteres fiel naturgemäß nicht weiter ins Gewicht. Der Adelsname wurde ihr entzogen und sie durfte nicht nach Pommern zurückkehren.

      Schwanger mit dem ersten Sohn, Paul Wilde junior, sollte sie ihr Leben von da an bis zu ihrem Tod im Zechendorf verbringen.

      Schwarzhausen war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ein Kaff mit 400 Seelen. Da man aber reichhaltige Braunkohlevorkommen fand, entstand im Jahr 1905 die stattliche Zeche. Ein majestätisches Bauwerk, das eher an den Buckingham Palace erinnerte als an eine Industrieanlage, wären da nicht die Fördertürme gewesen, die das Landschaftsbild beherrschten und die Macht der Ruhrkohle AG bezeugten.

      Schwarzhausen, zehn Kilometer von Dortmund entfernt, jener Stadt aus Bier, Stahl und Schweiß, sollte das Zentrum von Max’ kindlichem Universum werden.

      Doch zurück zu Magdalena von Rasatz, der früh geschwängerten Landpomeranze, die nun, statt sich mit Anstandsunterricht – hätte sie ihn bloß richtig verfolgt – und Französischlektionen zu verlustieren, die dreckigen Windeln ihres Erstgeborenen waschen musste.

      Magdalena und Paul zogen in eine Drei-Zimmer-Wohnung in die Hauptstraße, schräg gegenüber der katholischen Kirche, die sie auch beflissen jeden Sonntag aufsuchten.

      Magdalena, mit einem potenten Mann verheiratet, gebar zwei Jahre nach Pauls Geburt Zwillinge, die auf den Namen Ilse und Erich getauft wurden.

      Ilse wurde zur lebenslangen Friedensstifterin der gesamten Familie, vermittelte zwischen Brüdern und Vater, Mutter und Vater, Schwiegertöchtern und Vater. »Um des lieben Friedens Willen!«, wie sie sich ausdrückte, blieb sie ein Leben lang dem Glauben der katholischen Kirche verhaftet, ohne den lieben Gott oder andere Autoritäten zu hinterfragen.

      Ihr Bruder Erich, missmutig und schon als kleines Kind ständig nölend, bereitete der Familie nie viel Freude und arbeitete später für das Finanzamt.

      Magdalena durchlief ihr freudloses Leben an der Seite ihres Mannes, der im wahrsten Sinne mit strenger Hand die Familie zusammenhielt. Dies machte er nur zu gerne deutlich, indem seine Faust nicht nur auf dem Tisch, sondern auch in den Gesichtern der geliebten Frau und Kinder landete. Er verbrachte sein Leben unter der Woche in den Stollen der Zeche und am Wochenende bei seinen Repräsentationspflichten in der Kirche und in der örtlichen Kneipe. Man besuchte die Verwandten in den anderen Dörfern und lebte am Leben vorbei, da man es nicht kannte.

      Depressionen kamen und gingen, die Weimarer Republik hinterließ keine Spuren und Schwarzhausen schlief nach wie vor den Dornröschenschlaf.

      1933 sollte sich alles ändern, wenn auch nicht für lange. Hitler kam an die Macht und 13 Jahre nach der Geburt der Zwillinge wurde Magdalena wieder schwanger. Gewollt war der Nachkömmling anfangs nicht. Ein Schicksal, das sich in der Familie über dreißig Jahre später wiederholen sollte.

      Es war ein besonders heißer Sommer, Olympia hielt Berlin und Europa in Atem. Alle schwitzten, waren aber dennoch im Aufschwung und guter Hoffnung. Magdalena in der Hoffnung, bald von den überschüssigen zehn Kilo befreit zu werden, das deutsche Volk in der Hoffnung, den wirtschaftlichen Aufschwung unter der Führung Hitlers zu erleben.

      Herrmann wurde am heißesten Tag des Jahres, am 18. August gegen 14 Uhr, in einer Wohnküche geboren. Magdalena überlebte die Geburt mit Hilfe der Hebamme nur knapp, verlor Unmengen Blut und machte die späte Schwangerschaft in ihrem Leben permanent dafür verantwortlich, dass sie ein paar Jahre später an Blutkrebs erkrankte, den sie jedoch überlebte.

      Trotz aller widrigen Umstände verband sie eine tiefe Liebe zu ihrem neugeborenen Sohn, der hilflos und blutverschmiert in ihren Armen lag, instinktiv wissend, dass die Mutter der rettende Anker seines Lebens werden sollte.

      Eine dörfliche Idylle, wäre da nicht der hauseigene Diktator gewesen. Was Paul sagte, galt ohne Widerrede und Diskussion und wer nicht parierte, bekam eins aufs Maul. Wer ihm nicht den Respekt zollte, den er glaubte zu verdienen, wurde kleingemacht oder ganz einfach aus seinem Bewusstsein verdammt.

      Selbst später im hohen Alter, er war bereits über achtzig, halb blind und vegetierte seit zehn Jahren im Morgenrock auf der Couch bei Korn und Bier dahin, hatte er die Macht über seine Familie nicht verloren. Niemand wagte es, sich gegen den alten Haudegen durchzusetzen.

      Niemand