Störung. Mit Grausen denkt er an die alljährlich im Sommer stattfindende >Größte Kirmes am Rhein<, der er regelmäßig zu entfliehen versucht. Heute aber sieht er seine Wohnlage durchaus als erfreulich an, denn er würde mit seinen Freunden ungetrübte Aussicht auf die kurzweiligen Handwerkskünste der Pyrotechniker aus Japan haben.
Mit Hanne, genauer gesagt, Rechtsanwalt Hannes, hatte Benedict schon nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub gesprochen. Von seinem Inselabenteuer aber hat er auch dem langjährigen Freund nichts erzählt. Eigentlich komisch, denn normalerweise beredeten sie viele Dinge gemeinsam. Mit Dr. Lenzfried aus Benrath, seinem vertrauten Hausarzt, würde er gerne über ein paar andere Sachen reden, Sachen, die ihn aus dienstlichen Gründen interessierten.
Es ist noch Zeit, bis seine beiden Besucher eintreffen, und so spielt Benedict ein wenig mit seiner technischen Neuerwerbung, einem Compact-Disc-Spieler. Die modernen Geräte würden wohl unaufhaltsam die alten Plattenspieler ablösen. Zwar hängt der zuweilen konservative Benedict an seinen großen schwarzen Scheiben, er hat sich aber dennoch von der besseren Klangqualität des neuen Materials überzeugen lassen. Der kleine silberfarbene Rundling fährt fast lautlos in den Abspielschacht, und aus den zwei großen Lautsprecherboxen an der Wand neben dem Bücherregal kommt die metallisch-energische Frauenstimme, die das ganze Zimmer erfüllt.
I told you I told you
I told you I was one of those first we take Manhattan then we take Berlin
Der Song, den er schon im Urlaub oft im Radio gehört hat, berührt ihn auch jetzt wieder auf eigenartige Weise. Die faszinierende Bedrohlichkeit dieser klaren Frauenstimme verursacht eine Gänsehaut. Im Halbdunkel des Zimmers taucht das blasse Gesicht vor ihm auf, umrahmt von dünngelocktem Schwarzhaar und mit diesen Augen, deren Ausdruck von einer Sekunde zur anderen wechselt. Eben noch kritisch prüfend und nun voller glitzernder Spottsprenkelchen und dann wieder mit dem Ausdruck von schwermütiger Sehnsucht nach Umarmung und Wärme. Dort leben. Warum nicht? Er könnte es sich doch leisten. Im Gegensatz zu seinen Kollegen im Präsidium ist er auf das Geld nicht angewiesen. Und auch nicht auf die Beamtenpension. Seine Frau hat ihn wohlversorgt zurückgelassen. Und irgendwas würde er dort schon anfangen. Eine kleine Kate am Atlantik mit ein bisschen Wiese drumherum. Fast ein Ersatz für Mecklenburg und den Bodden. Keinen Ärger mehr mit irgendwelchen von Köln kommenden Emanzen.
Na, bitte. Da hat es ihn also wieder eingeholt, das Problem, sein Problem: Maria Leiden-Oster. Aus Köln. Versetzt zum 1. K nach Düsseldorf. Er hatte es doch wirklich versucht. Hatte sich seiner sonst üblichen und im Präsidium gefürchteten sarkastischen Bemerkungen enthalten. Aber schließlich war ihm ihre unnachsichtige sachliche Art, auf Rechte zu pochen und sich über vermeintliche oder auch wirkliche Benachteiligungen gleich auf dem Dienstweg zu beschweren, doch gegen den Strich gegangen.
Wie in anderen Arbeitsbereichen gibt es eben auch im 1. K kleinere Privilegien, die man sich erst nach einer gewissen Spanne der Zugehörigkeit erwirbt. In manchen Dezernaten ist das vielleicht der >eigene< Schlüssel zum Klo, in anderen ein etwas besser ausgestattetes Telefon oder ein besonderer Arbeitstisch mit einer der seltenen elektrischen Schreibmaschinen. Auch das Privileg einer interessanten Dienstreise gehört dazu, vielleicht sogar ins Ausland.
Dieses feine Gespinst erworbener oder erdienter Vergünstigungen trennt - in der Regel nur erkennbar für den Insider - die ansonsten gleiche Struktur in neue, relativ alte und wirklich alte Mitarbeiter. Es sorgt für Zufriedenheit bei denen, die schon lange dabei sind, und schafft Ansporn bei denen, die neu zum Team stoßen. Dieses System funktionierte bislang reibungslos. Seit MLOs Zugang - Benedict hat sich dieses unverfängliche Kürzel zugelegt, damit ihm nicht wieder aus Versehen ihr Spitzname herausrutscht - ist dieses System nachhaltig gestört. MLO hatte gleich in der ersten Woche die kleinen Vergünstigungen der Kollegen des 1. K aufgespürt und sie knallhart auch für sich eingefordert. Da es rational keinerlei Begründung für eine Verweigerung gegeben hatte, musste Doemges - er vertrat Benedict während dessen Urlaub - ihr diese zugestehen. Damit löste er im 1. K eine Krise aus, die bei Benedicts Rückkehr gerade ihrem zweiten Höhepunkt zugestrebt war.
Anlass war das Rauchen. Benedict ist, bis auf eine gelegentliche Havanna-Zigarre, Nichtraucher. Genau wie MLO. Während der von ihm anberaumten und geleiteten dienstlichen Besprechungen gilt ein absolutes Rauchverbot für alle Teilnehmer. Was die Beamten an ihren Arbeitsplätzen machen, ist ihre Sache, und Benedict mischt sich da nicht ein. Fast alle Leute des 1. K sind aber Raucher, und die wenigen Nichtraucher schienen bisher damit leben zu können.
Im Gegensatz zu Benedict ist MLO das, was man eine kämpferische Nichtraucherin nennt. Anfangs hatte sie sicherlich mal die Kollegen gebeten, auf das Rauchen zu verzichten, aber die hatten das wohl nicht so ernst genommen. Als nächsten Schritt riss MLO dann sämtliche Fenster auf, sobald irgendwo eine Zigarette zu qualmen begann. Als auch das keine Wirkung zeigte, ging sie dazu über, die in den Aschenbechern kokelnden Zigaretten mit Wasser zu löschen, und riss auch schon mal einem Unachtsamen die gerade angesteckte Zigarette aus den Fingern, um sie aus dem Fenster zu werfen. Damit hatte sie aber eine Eskalationsebene erreicht, die die ohnehin finanzknappen Polizisten an einer empfindlichen Stelle berührte: an ihrem Portemonnaie. Es kam zu offenen und lautstarken Auseinandersetzungen, die schließlich in einen verdeckten Kleinkrieg mündeten. Boykott, Gegenboykott und passiver Widerstand. Die Zusammenarbeit im Team bekam Risse. Als Benedict wieder ins Präsidium kam, fand er das Team in desolatem Zustand vor, und auf seinem Schreibtisch lag eine erste Beschwerde von MLO in dieser Raucherangelegenheit.
Die nächste Beschwerde folgte einen Tag danach: Einer der Neumann-Zwillinge, auch MLO konnte nicht angeben, welcher, hatte in einem Gespräch über die Serie von Sexualdelikten in Düsseldorf einen idiotischen und folgenschweren Satz von sich gegeben: »Der Spritzer ist schon wieder einer Torte an die Knautschzone gegangen!« MLO zitierte ihn in ihrer Beschwerde und forderte von Benedict eine Ahndung dieses Vorfalls. Sie fühle sich als Frau durch diese Äußerung in ihrer Würde verletzt.
Der vorerst letzte Schlag kam dann gleich einen Tag später, als einer von der ganz alten Garde, ein Hauptmeister kurz vor der Pensionierung, der sich bückenden Kommissarin Leiden-Oster im Vorbeigehen einen Schlag auf das ausgestreckte Hinterteil gegeben hatte. Er meinte, das sei doch nur ein freundlicher Klaps gewesen und sie solle das doch nicht so tragisch nehmen. Nein. Benedict hatte nichts übrig für die sabbernden Hinternkneifer und Busengrapscher, wo auch immer sie anzutreffen waren. Aber sollte er einen Großvater und alten Haudegen aus vielen Einsätzen um Teile seiner Pension bringen und mit Schimpf und Schande in die Öffentlichkeit zerren? Er hatte versucht, die Kommissarin zu einem Gespräch mit Jupp Krings zu bewegen, und sie gefragt, ob sie sich der Konsequenzen bewusst sei. Aber Granit: »Daran hätte der vorher denken sollen!« Sie hatte sich nicht erweichen lassen, und er, Benedict, sitzt nun mit dem ganzen Schlamassel da.
Bis am Montag muss er seine Entscheidung gefällt haben.
Es ist ruhig im Zimmer. Der letzte Ton der Platte ist verklungen. Draußen beginnt es dunkel zu werden. Benedict schaltet die Wandbeleuchtung an und geht auf den Flur hinaus. Nun müssten die beiden aber langsam erscheinen!
Rechtsanwalt Hannes und Dr. Lenzfried kommen dann sogar gemeinsam die Treppen rauf. Die beiden haben sich vorher nicht gekannt, und erst vor Benedicts Wohnung stellten sie fest, dass sie zum gleichen Gastgeber wollen.
»Grüß dich, Hanne! Grüß dich, Lenz!«
Man steht etwas unschlüssig vor der Flurwand mit den Stichen von Greifswald und Rostock und der alten Düsseldorfer Schuldverschreibung herum.
»Also, bevor das hier zu ungemütlich wird, schlage ich vor, dass ihr beide euch duzt. Sonst wird der Abend zu eckig! In Ordnung?«
Der immer etwas verschmitzt wirkende Rechtsanwalt streckt dem Mann mit dem vollbärtigen Gesicht seine Rechte entgegen. »Rechtsanwalt Hannes aus Meerbusch. Am besten, du sagst Hanne zu mir!«
»Dr. Lenzfried aus Benrath«, nickt der Angesprochene noch etwas hölzern mit dem Kopf, »na, und für ... dich dann Lenz!«
Die beiden Männer schütteln sich die Hände. Und dann rümpft Hannes die Nase und meint enttäuscht zu Benedict: »Ich rieche ja gar nichts, Benny! Ich dachte, es gibt eine deiner