Geraint Thomas sich auf, um diese Frage zu beantworten: Er ging an Poels vorbei und zog davon. Egan scherte zur Seite aus, lockte Alaphilippe nach vorn und schlüpfte an dessen Hinterrad. Von dort aus sah er zu, wie sich der nächste Abschnitt des Rennens entfaltete.
Der Österreicher Gregor Mühlberger führte seinen deutschen Teamkollegen Emanuel Buchmann und die anderen Favoriten zurück an Thomas’ Hinterrad. Dann stahl sich der Niederländer Steven Kruijswijk vorbei und schaute sich um, so als wollte er eine Reaktion provozieren. Thomas beschleunigte, Mühlberger setzte erneut nach – und dann tat sich ein Stück weiter hinten eine Lücke auf.
Auf den Pedalen stehend, sein Rad hin- und herwuchtend, ist Alaphilippe in Schwierigkeiten.
Egan weicht nach rechts aus, beschreibt einen großen Bogen um das sich abmühende Gelbe Trikot und schließt im Nu zu Buchmann auf. Mühlberger, Thomas und Kruijswijk schauen sich einer nach dem anderen um – und Bernal tritt erneut an.
Noch immer im Sitzen schießt er an Kruijswijk vorbei. Um die Lücke zu schließen, geht der Niederländer für zwölf mühsame Pedalumdrehungen aus dem Sattel. Dann setzt auch er sich und blickt hinab, um den Schmerz zu verbergen – und ergibt sich. Die Anstrengung hat ihn tief in die Sauerstoffschuld gebracht. Mit nur geringer Bewegung des Oberkörpers fährt Egan Bernal davon. Es sind noch 42,5 Kilometer zu fahren auf der Etappe, fünf bis zum Gipfel des Iseran.
Auf den folgenden vier Kilometern geht er an den stärksten Fahrern aus der ehemaligen Ausreißergruppe vorbei – an namhaften Siegfahrern wie Vincenzo Nibali, Simon Yates, Warren Barguil und seinem Landsmann Rigoberto Urán. Manche können ihm einen Moment lang folgen, alle müssen schließlich abreißen lassen. Er geht allein über den Col und sichert sich die Zeitbonifikation von acht Sekunden. 58 Sekunden später fahren Thomas, Kruijswijk und Buchmann im Windschatten von Laurens De Plus, Kruiswijks Helfer in den Bergen, über die Passhöhe. Alaphilippe kommt zwei Minuten und sieben Sekunden nach Bernal oben an: Sein Rückstand im Gesamtklassement beträgt in diesem Moment virtuell 48 Sekunden, doch angesichts einer 15 Kilometer langen Abfahrt vor dem 7,4 Kilometer langen Schlussanstieg zum Ziel in Tignes kann an diesem Tag noch einiges passieren.
Aber während die Fahrer die Südseite des Iseran hinaufkletterten, war im Norden das Unwetter aufgezogen. Binnen einer sintflutartigen Viertelstunde gossen dunkle Wolken 15 Zentimeter eisiges Wasser über der Rennstrecke aus. Schneepflüge schoben die Fluten von der Straße, aber hinter ihnen kamen nur noch mehr nach. Schlimmer noch, 13,5 Kilometer vor dem Ziel, hinter dem Brévières-Tunnel, hatte ein Erdrutsch die Straße unter einem halben Meter Geröll begraben. Es würde keinen Schlussanstieg und keine Zielankunft in Tignes geben. Die Etappe wurde abgebrochen, die Fahrer wurden informiert und die Zeitabstände oben am Col de l’Iseran gewertet: Egan Bernal war der neue Träger des Gelben Trikots. Zwei Tage später, auf den Champs-Élysées, feierte er den ersten Tour-de-France-Sieg für Kolumbien und Lateinamerika.
Es war eine außergewöhnliche Tour gewesen, geprägt nicht nur von Wetterkapriolen, sondern auch von einer langfristigen Klimaveränderung. Und Egan Bernal, der jüngste Tour-Sieger seit 115 Jahren, war mit 22 Jahren und 195 Tagen jung genug, um eine neue Ära einzuläuten.
Angesichts so talentierter Fahrer wie Daniel Martínez, Sergio Higuita und Iván Sosa – nicht zu vergessen Jhonatan Narváez aus Ecuador –, die ebenfalls den Durchbruch in der WorldTour geschafft haben, und einer ganzen Armee junger Hoffnungsträger nach ihnen ist es eine Ära, die durchaus ein Jahrzehnt oder mehr andauern könnte. Wobei sie streng genommen längst begonnen hatte. Schließlich hatte, nur wenige Monate vor Egans Triumph bei der Tour, mit Richard Carapaz ein Fahrer aus Ecuador den Giro gewonnen, der einige Jahre in der kolumbianischen Radsportszene unterwegs gewesen war, bevor er nach Europa ging – und der so nah der Grenze zu Kolumbien lebte, dass er sie auf seinen Trainingsfahrten mehrmals am Tag überquerte. Und vor ihm, in den sechs Saisons von 2013 bis 2018, sammelte ein Quartett von Egans Landsleuten – Nairo Quintana, Rigoberto Urán, Esteban Chaves und Miguel Ángel López – nicht weniger als 13 Podiumsplatzierungen bei den drei großen Rundfahrten in Italien, Frankreich und Spanien.
Es gilt bisweilen als einfacher, die Anfänge von etwas zu erkennen als deren Enden. Aber Anfänge werden erst im Nachhinein als solche wahrgenommen und Egans Sieg kann als das Einfahren der Ernte dessen angesehen werden, was zahllose Vorgänger gesät haben. Seit der damals 23-jährige Nairo Quintana im Jahr 2013 als erster Kolumbianer den zweiten Platz bei der Tour de France belegt hatte, galt es nur als eine Frage der Zeit, bis der erste Kolumbianer die Rundfahrt gewinnen würde. Ähnliches wurde schon 1988 gesagt, als Fabio Parra als erster Kolumbianer auf dem Podium stand. Alle drei – Fabio, Nairo und Egan – stammen von dem gleichen Hochplateau nördlich von Bogotá. Wenn man sie nebeneinander betrachtet, könnte man sogar meinen, sie wären verwandt.
Aber es gibt noch weitere Anfänge, denn es war ein Sohn aus Egans Heimatstadt Zipaquirá, circa 40 Kilometer nördlich der Hauptstadt gelegen, der 1949 über die Tour de France las und ein nationales Etappenrennen in Kolumbien anregte. Efraín Forero Trivino, Sohn eines Apothekers und Goldmedaillengewinner in der Mannschaftsverfolgung bei den Zentralamerika- und Karibikspielen von 1950, trug die Idee an den Sportkorrespondenten der landesweiten Tageszeitung El Tiempo heran. Seine Beharrlichkeit wurde im Oktober 1950 belohnt, als er aufgefordert wurde, den Nachweis zu erbringen, dass so etwas überhaupt machbar wäre, indem er, in Begleitung eines Lastwagens des Ministeriums für öffentliche Bauarbeiten, den furchteinflößenden, 80 Kilometer langen Alto de Letras mit dem Rad hinauffuhr. Der Lastwagen blieb im Schlamm stecken. Forero aber schaffte es nach Manizales, der Stadt auf der anderen Seite des Passes. Dort, in Kenntnis gesetzt über seine Leistung, hoben ihn die Bürger auf die Schultern und trugen ihn rund um den Platz.
Der Chefredakteur von El Tiempo, Enrique Santos Castillo – dessen Sohn Juan Manuel Santos später als Präsident der Republik den Friedensnobelpries erhalten und Nairo Quintana und Esteban Chaves im Präsidentenpalast empfangen würde – war überzeugt. Aber die Geschichte war gegen das Projekt oder wäre es zumindest überall sonst gewesen. Das Land war tief gespalten in zwei gegnerische Lager, die Liberalen und die Konservativen. In ländlichen Gemeinden, wo Parteizugehörigkeit eher eine Sache kollektiver Identität als persönlicher Entscheidung war, bestanden die Beziehungen zwischen den beiden Lagern bestenfalls aus einem schwelenden Patt. 1946, als trotz liberaler Mehrheiten im Senat und im Repräsentantenhaus ein Konservativer die Präsidentschaft übernahm, brachen Kämpfe aus. Die Ermordung des liberalen Anführers Jorge Eliécer Gaitán im Zentrum von Bogotá am 9. April 1948 führte zu landesweiten Unruhen.
Historiker bezeichnen die Jahre zwischen 1946 und 1958 schlicht als La Violencia – die Gewalt. Schätzungsweise 180.000 Menschen kamen ums Leben, zwei Millionen wurden vertrieben – unmögliche Bedingungen für eine landesweite Radrundfahrt. Und doch, in einem historischen Paradox, das viel verrät über dieses Land der Überraschungen und den Platz, den der Radsport in ihm einnimmt, ging die erste Vuelta a Colombia wie geplant im Januar 1951 über die Bühne. Mit seinem Sieg wurde Efraín Forero zum ersten Radsport-Superstar seines Landes. Zipaquirá war schon vor der Ankunft der Konquistadoren für seine Salzminen bekannt, die den Ort zu einem bedeutenden Wirtschaftszentrum machten. Tatsächlich sollen die indigenen Muisca, trotz ihres Geschicks in der Verarbeitung von Gold, Silber und Kupfer, das Salz der Stadt als Zahlungsmittel genutzt haben. Dank Efraín Forero wurde Zipaquirá fortan unauslöschlich mit noch etwas anderem assoziiert: Geschick auf dem Rad, sich manifestierend in seinem Kriegernamen »El indomable Zipa«, »der unbezwingbare Zipa«. Ein Zipa, oder richtiger ein Psihipqua, ist bzw. war ein Muisca-Anführer von solcher spiritueller Macht, dass man sich ihm nur rückwärts nähern konnte: Ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, könnte den leichtsinnigen Bittsteller erblinden lassen oder Schlimmeres. Und so hatte es durchaus etwas von einem Abschluss, von einer Erfüllung, als sich Efraín Forero am Mittwoch, dem 7. August 2019, im Alter von 89 Jahren, auf der Plaza de la Independencia der Stadt zu Egan Bernal auf das Podium gesellte, um dessen Tour-Sieg zu feiern. Für den kolumbianischen Radsport hatte sich der Kreis geschlossen.
Foreros Kolumbien-Rundfahrten, die frühen Ausgaben, lockten enorme Zuschauermengen an. Mehr als nur die nationale Imagination in ihren Bann zu ziehen, erbrachten sie auch den Nachweis, dass es so etwas überhaupt geben könnte. Sie ermöglichten der