Rainer Wekwerth

Camp 21


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Abstand zu seinem Bruder nicht zu groß werden lassen, falls der etwas Dummes vorhatte. Das musste er unbedingt verhindern.

      Als beide den Waschraum betraten, wirbelte Ricky herum. Seine Augen blitzten zornig. »Ich habe echt keine Lust auf diesen Mist. Ich haue ab.«

      »Das kannst du nicht bringen. Wo willst du überhaupt hin?«

      »Irgendwohin, bloß nicht in dieses Scheißcamp. Die haben uns die Handys abgenommen. Mann, geht’s noch? Da mache ich nicht mit.«

      »Ricky!«

      »Mal ehrlich, Mike, wenn Ashley sechs Monate nichts von mir hört, ist sie weg. Zieht mit einem anderen Typen los.«

      »So lange dauert das nicht. Du hast ja gehört, man darf telefonieren.«

      »Und das glaubst du? Für mich klingt das nach irgendwann einmal und auch nur dann, wenn wir schön brav sind.«

      Mike trat vor ihn. »Willst du es einfach nicht kapieren? Was ist los mit dir? Wenn du jetzt abhaust und sie kriegen dich, und das werden sie, dann wanderst du in den Jugendknast. Lass uns die Sache mit dem Camp locker abreißen, wird schon nicht so schlimm werden. Nicht lange und wir sind wieder daheim.«

      »Nein, ich versau mir die Sache mit Ashley nicht.«

      Mike wollte Ricky die Hand auf die Schulter legen, aber der entzog sich ihm durch eine unwirsche Geste.

      »Wenn dich Ashley wirklich mag, wird sie auf dich warten«, versuchte er, seinen Bruder zu beruhigen.

      »Nicht, wenn sie so lange nichts von mir hört. Nein, mein Entschluss steht fest. Ich haue ab. Jetzt gleich. Entweder du kommst mit oder eben nicht!«

      »Tu das nicht«, sagte Mike leise.

      »Was ist jetzt? Bist du dabei?«

      »Nein. Und ich kann nicht zulassen, dass du so etwas Dummes machst.«

      »Du kannst nichts dagegen tun«, zischte Ricky.

      »Er nicht, aber wir«, sagte eine Stimme am Eingang des Waschraumes. Brown und Salisbury standen in der Tür.

      Sie hatten die Unterhaltung belauscht. Von Anfang an hatten sie geahnt, dass Ricky etwas vorhatte. Mike wurde schlecht. Sein Magen drehte sich und schien auf die Lunge zu drücken, denn plötzlich bekam er keine Luft mehr.

      »Sir, er hat das nicht so gemeint«, versuchte Mike, seinen Bruder zu schützen.

      »Jedes Wort!«, knurrte Ricky. »Ihr zwei Arschlöcher werdet mich nicht aufhalten.«

      »Oh doch, das werden wir.« Salisbury lächelte finster.

      Ricky warf sich nach vorn, versuchte, zwischen den beiden Männern hindurch ins Freie zu gelangen, aber es war aussichtslos. Brown packte ihn, während Salisbury Rickys Arme auf den Rücken zwang und ihm Plastikhandfesseln anlegte. Ricky begann nun, mit den Füßen zu strampeln und nach den Betreuern zu treten, aber das brachte ihm nur eine weitere Fessel um die Fußknöchel ein.

      Ricky warf den Kopf nach vorn und spuckte dem Betreuer ins Gesicht. Salisbury fluchte laut. Er und Brown schleiften Ricky aus dem Waschraum direkt zum Van. Mike stolperte hinterher. Am Fahrzeug angekommen, riss Brown die hintere Tür auf. Gemeinsam stopften er und sein Kollege Ricky auf den Rücksitz.

      Dann legten sie ihm einen Mundknebel an. Ricky zappelte und bäumte sich auf, aber es war aussichtslos. Ebenso schnell, wie sein Widerstand aufgeflammt war, erlosch er auch wieder. Mike wusste nicht, ob er den Männern etwas vorspielte oder ob er tatsächlich aufgegeben hatte, aber so oder so konnte er nichts mehr ausrichten.

      »Ist das wirklich nötig?«, fragte Mike erregt. »Müssen Sie meinen Bruder so grob behandeln?«

      Salisbury zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich über das Gesicht. »Steig ein!«, befahl er Mike.

      Mike zögerte.

      »Ich sage das nicht noch einmal.«

      Frustriert zwängte sich Mike auf den Rücksitz. Neben ihm schnaufte sein Bruder durch den Knebel hindurch.

      Kayla saß auf dem Sofa und blickte betreten auf ihre Füße. Vor dreißig Minuten war die Polizistin gegangen, nachdem sie ihre Aussage zu Toms Auffinden aufgenommen hatte. Seitdem musste sie sich vor ihren Eltern rechtfertigen.

      »Was hast du dir dabei gedacht?«, fuhr ihr Vater sie an.

      Kayla sah auf in sein zornesrotes Gesicht. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, an der Schläfe pochte eine Ader. Es sah aus, als krieche ein Wurm darüber. Der Blick seiner Augen verhieß nichts Gutes. Diesmal würde er sie hart bestrafen, ganz gleich, was sie antwortete.

      »Er ist mein Freund. Ich konnte ihn nicht im Stich lassen«, sagte sie trotzig.

      »Dein Freund?«, zischte ihr Vater. »Der Junge nimmt Drogen. Harte Drogen! Nicht irgendwas. Kein Gras. Nein, Heroin jagt er sich in den Körper. Und so etwas nennst du einen Freund?«

      »Ja.«

      »Die Schule ist dir anscheinend egal. Dass wir dir verboten haben, Tom zu sehen, ist dir egal. Die Polizei kommt in dieses Haus und das ist mir nicht egal.«

      »Ich habe nichts falsch gemacht. Ohne mich wäre er vielleicht gestorben. Sie konnten ihn nur retten, weil ich rechtzeitig da war«, beharrte Kayla.

      Ihr Vater kniff die Augen zusammen. »Der Junge ist verloren, so oder so. Er wird es nicht packen, aber er wird dich mit in den Abgrund ziehen, und das lasse ich nicht zu. Niemals!«

      »Tom ist mein Freund, er braucht mich jetzt.«

      »Ich verbiete dir den Umgang mit ihm.«

      »Das kannst du nicht machen.«

      »Du wirst ihn nicht wiedersehen.«

      Kayla sprang auf. Ihr Herz klopfte wild in der Brust. »Ist es wegen David? Weil er gestorben ist?«

      »Dein Bruder hat damit nichts zu tun.«

      Kayla schüttelte den Kopf. Seit dem Tag, als David in Afghanistan gefallen war, ließen ihre Eltern sie nicht mehr aus den Augen. Es war kaum zu ertragen. »Ihr habt zugelassen, dass er zur Armee ging. Ja, richtig stolz wart ihr, als er seine Ausbildung zum Marine abgeschlossen hat. Und jetzt macht ihr euch Vorwürfe, dass ihr es nicht verhindert habt, und ich muss dafür büßen.«

      »So ist das nicht«, sagte ihr Vater. »Und das weißt du ganz genau.«

      »Oh doch. So und nicht anders. Ihr beobachtet mich. Aus Angst, mir könnte ebenfalls etwas zustoßen, kontrolliert ihr mich bei allem, was ich tue.«

      »Und wie sich herausstellt, zu Recht!«

      »Ich habe kaum noch Freunde, weil ihr mich zu keiner Party lasst, und jetzt wollt ihr auch noch verhindern, dass ich mich um Tom kümmere.«

      »Ich habe dir gesagt, du wirst ihn nicht wiedersehen, und dabei bleibt es.«

      »Mom, sag doch auch mal was«, wandte sich Kayla Hilfe suchend an ihre Mutter, aber die hielt den Blick gesenkt und flüsterte nur: »Mach, was dein Vater dir sagt.«

      Für einen Moment schloss Kayla die Augen, dann stürmte sie nach oben in ihr Zimmer. Sie knallte die Tür heftig ins Schloss und warf sich aufs Bett. Tränen stiegen in ihr auf und diesmal hielt sie ihre Gefühle nicht zurück, sondern weinte bitterlich. Um Tom, um sich, um dieses verdammte Leben, das immer schwieriger wurde.

      Irgendwann schlief sie erschöpft ein.

      Kayla wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie erwachte. Von unten drang die tiefe Stimme ihres Vaters herauf, der mit irgendjemandem telefonierte. Kayla schaute auf ihren Wecker. Es war schon nach zehn Uhr abends, mit wem sprach ihr Vater da? Sie konnte nur Wortfetzen verstehen, aber sie hörte die Eindringlichkeit, mit der ihr Dad sprach.

      »In Ordnung, wir bereiten alles