Eric Hobsbawm

Das Zeitalter der Extreme


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ein. Die Briten erfanden das gepanzerte Raupenfahrzeug, das im Englischen noch heute bei seinem damaligen Codenamen tank genannt wird, doch ihre wahrhaftig nicht sehr beeindruckenden Generäle hatten noch nicht entdeckt, wie man es wirkungsvoll benutzt. Beide Seiten setzten die neuen, noch recht zerbrechlichen Flugzeuge ein und Deutschland auch die seltsam zigarrenförmigen und mit Gas gefüllten Flugschiffe, die glücklicherweise wenig erfolgreich mit Luftbombardements experimentierten. Aber auch der Luftkrieg kam erst im Zweiten Weltkrieg voll zur Geltung, vor allem als Mittel zur Terrorisierung der Zivilbevölkerung.

      Die einzige technische Waffe, die auf die Kriegsführung 1914–18 wesentlichen Einfluß hatte, war das Unterseeboot. Da keine Seite in der Lage war, die Soldaten der anderen zu schlagen, zogen sich beide darauf zurück, die Zivilbevölkerung der anderen Seite auszuhungern. Und da die gesamte britische Versorgung auf dem Seeweg stattfand, schien es tunlich, die Britischen Inseln durch einen immer erbarmungsloseren Unterwasserkrieg gegen britische Schiffe zu strangulieren. 1917, kurz bevor endlich Mittel und Wege zu Gegenmaßnahmen gefunden wurden, war diese Schlacht dem Erfolg schon sehr nahe gekommen. Doch mehr als alles andere trug sie dazu bei, die USA in den Krieg hineinzuziehen. Auch die Briten taten ihr Bestes, um den Versorgungsnachschub nach Deutschland zu blockieren und sowohl die deutsche Kriegswirtschaft als auch die deutsche Bevölkerung auszuhungern. Daß sie dabei erfolgreicher waren, als sie selbst angenommen hatten, lag daran, daß die deutsche Kriegswirtschaft in Wirklichkeit nicht mit der Effizienz und Rationalität arbeitete, mit der sich die Deutschen immer stolz gebrüstet hatten, im Gegensatz zur deutschen Militärmaschinerie, die den anderen im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg haushoch überlegen war. Die schiere militärische Überlegenheit der deutschen Streitkräfte hätte den Krieg tatsächlich entscheiden können, wäre es den Alliierten 1917 nicht gelungen, die praktisch unbegrenzten Ressourcen der USA zu mobilisieren. Tatsache war, daß Deutschland trotz seiner Fesselung an die Allianz mit Österreich einen totalen Sieg im Osten verbuchen konnte, nachdem es 1917–18 Rußland aus dem Krieg in die Revolution getrieben und aus großen Teilen seiner europäischen Territorien vertrieben hatte. Kurz nachdem Deutschland den diktierten Frieden von Brest-Litowsk verhängt hatte (März 1918), gelang den nunmehr auf den Westen konzentrierten Streitkräften der Durchbruch an der Westfront, und sie konnten erneut in Richtung Paris vorrücken. Nur dank der massiven amerikanischen Unterstützung und Ausrüstung konnten sich die Alliierten wieder erholen, aber für eine Weile hatte es knapp ausgesehen. Dies war jedoch das letzte Aufbäumen eines erschöpften Deutschland, das selbst wußte, wie nahe seine Niederlage bevorstand. Als die Alliierten im Sommer 1918 erst einmal vorzurücken begannen, war das Ende nur noch eine Frage von Wochen. Die Mittelmächte gestanden ihre Niederlage ein und brachen schließlich vollständig zusammen. Im Herbst 1918 schwappte die Revolution genauso über Mittel- und Südosteuropa, wie sie sich 1917 über Rußland ausgebreitet hatte (siehe folgendes Kapitel). Keine der alten Regierungen zwischen den Grenzen Frankreichs und dem Japanischen Meer hielt sich. Selbst die kriegführenden Parteien der siegreichen Seite wurden erschüttert, obwohl man kaum bezweifeln kann, daß Großbritannien und Frankreich auch eine Niederlage als stabile politische Gebilde überlebt hätten – nicht jedoch Italien. Von den besiegten Staaten entging keiner der Revolution.

      Hätte sich einer der großen Minister oder Diplomaten der Vergangenheit – einer von jenen, die den Aspiranten des auswärtigen Dienstes noch immer als Vorbilder hingestellt werden, etwa ein Talleyrand oder ein Bismarck – aus seinem Grab erhoben, um den Ersten Weltkrieg zu beobachten, so hätte er sich gewiß darüber gewundert, weshalb verständige Staatsmänner sich nicht zusammengesetzt und den Krieg mit irgendeinem Kompromiß beendet haben, bevor er die Welt von 1914 zerstören konnte. Auch wir müssen uns diese Frage stellen. Die meisten nichtrevolutionären und nichtideologischen zwischenstaatlichen Kriege der Vergangenheit waren nicht als Kampf bis zur völligen Erschöpfung oder zum Tod geführt worden. Und auch 1914 war es gewiß nicht Ideologie gewesen, die die Kriegsparteien spaltete – abgesehen von der Tatsache, daß die Kriegsführung auf beiden Seiten auch die öffentliche Meinung mobilisierte, etwa mit der Behauptung, es ginge um die fundamentale Herausforderung der geltenden nationalen Werte: wie russische Barbarei gegen deutsche Kultur, französische und britische Demokratie gegen deutschen Absolutismus und ähnliches mehr. Außerdem gab es Staatsmänner, die sich für Friedensverhandlungen einsetzten, von Rußland und Österreich-Ungarn einmal abgesehen, die in wachsender Verzweiflung ihre jeweiligen Alliierten in eine Kompromißlösung drängen wollten, als ihre Niederlagen immer näher rückten. Weshalb also wurde der Erste Weltkrieg von den führenden Mächten beider Seiten als Nullsummenspiel geführt, als ein Krieg also, dessen Ausgang nur ein totaler Sieg oder eine totale Niederlage sein konnte?

      Der Grund dafür war, daß sich dieser Krieg, im Gegensatz zu den (normalerweise begrenzten und spezifizierten) früheren Kriegen, auf unbegrenzte Ziele richtete. Im imperialen Zeitalter waren Politik und Wirtschaft miteinander verschmolzen. Internationale politische Rivalität ahmte Wirtschaftswachstum und Wettbewerb nach, deren charakteristisches Merkmal es ja schon prinzipiell war, grenzenlos zu sein. »Die ›natürlichen Grenzen‹ von Standard Oil, der Deutschen Bank oder der De Beers Diamond Corporation lagen dort, wo das Universum endet, zumindest aber erst da, wo ihre Expansionsfähigkeit endete« (Hobsbawm, 1987, S. 318). Konkreter noch: Auch für die beiden Hauptkontrahenten Deutschland und Frankreich lagen die Grenzen jenseits des Horizonts. Denn Deutschland wollte eine weltweite politische und maritime Machtposition erringen, die zu dieser Zeit noch von Großbritannien eingenommen wurde. Aber Großbritannien befand sich bereits am Abstieg und befürchtete, mit Deutschlands Vormarsch automatisch in eine untergeordnete Rolle zurückgedrängt zu werden. Es ging daher um alles oder nichts. Und für Frankreich ging es schon damals (wie auch später immer wieder) weniger um eine globale als um eine andere drängende Frage: um die Kompensation für seine zunehmende und offenbar auch unvermeidliche demographische und ökonomische Unterlegenheit gegenüber Deutschland. Auch die Zukunft Frankreichs als Großmacht stand hier auf dem Spiel. In beiden Fällen hätte ein Kompromiß im Grunde nur eine Verzögerung bedeutet. Deutschland selbst, so hätte man vermuten können, hätte nur zu warten brauchen, bis seine territoriale Größe und Überlegenheit genau die Position begründet hätten, die deutsche Regierungen für ihren Staat angemessen fanden. Das wäre früher oder später auch geschehen. Tatsache aber ist, daß die Vormachtstellung des zweimal besiegten Deutschland in den frühen 1990er Jahren, als der Staat keinerlei Ansprüche mehr darauf erhob, eine unabhängige Militärmacht in Europa zu sein, wesentlich unangefochtener sein sollte, als es das militaristische Deutschland vor 1945 je angestrebt hatte. Doch wie wir noch sehen werden, war dies nur möglich, weil Großbritannien und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg dazu genötigt wurden, ihren Rückzug (wenn auch zögerlich) in eine zweitrangige Position zu akzeptieren, und weil die Bundesrepublik trotz all ihrer ökonomischen Stärke überdies erkannt hatte, daß eine Vormachtstellung als einzelner Staat in der Welt nach 1945 jenseits ihrer Möglichkeiten lag und auch weiterhin liegen müßte. Um 1900, auf dem Gipfel des imperialen und imperialistischen Zeitalters, war der deutsche Anspruch auf einen einzigartigen, globalen Status (»Am deutschen Wesen soll die Welt genesen« – so lautete die Phrase) noch ungebrochen, ebenso wie der Widerstand Großbritanniens und Frankreichs dagegen – beide damals noch unbestreitbar »Großmächte« in einer eurozentrierten Welt. Auf dem Papier wäre zweifellos ein Kompromiß bei diesem oder jenem Punkt der fast schon megalomanischen »Kriegsziele« zu erreichen gewesen, die beide Seiten unmittelbar nach Ausbruch des Krieges formuliert hatten. Doch in der Wirklichkeit war das einzige Kriegsziel, das zählte, der totale Sieg – also die »bedingungslose Kapitulation«, wie es dann im Zweiten Weltkrieg heißen sollte.

      Es war ein absurdes und selbstzerstörerisches Ziel, das sowohl Sieger wie Besiegte ruinieren sollte. Es trieb die Besiegten in die Revolution und die Sieger in den Bankrott und bis zur völligen physischen Erschöpfung. 1940 konnte Frankreich nur deshalb mit so lächerlicher Leichtigkeit und Geschwindigkeit von einer zahlenmäßig durchaus nicht überlegenen deutschen Wehrmacht überrannt werden und ohne Zögern die Unterwerfung unter Hitler akzeptieren, weil das Land 1914–18 beinahe ausgeblutet wäre. Auch Großbritannien konnte nach 1918 nie wieder zu seinem alten Zustand zurückfinden, weil das Land seine Wirtschaft ruiniert hatte, indem es einen Krieg geführt hatte, der seine Mittel weit überstieg. Hinzu kommt, daß der totale Sieg, ratifiziert durch das Strafgericht eines Friedensdiktats, auch noch die letzten Chancen verbaut hatte, etwas wiederherzustellen, das