Lydia Davis

Formen der Verstörung


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bin ich nicht elegant. Jemand hat einmal gesagt, dass ich wie ein Schwan schwimme, aber das war kein Kompliment.

      Tropischer Sturm

      Wie ein tropischer Sturm

      werde auch ich eines Tages vielleicht »besser organisiert« sein.

      Gute Zeiten

      Was ihnen widerfuhr, das war, dass jede schlechte Zeit ein schlechtes Gefühl mit sich brachte, das seinerseits mehrere schlechte Zeiten mit sich brachte und mehrere schlechte Gefühle, so dass sich in ihrem Zusammenleben schlechte Zeiten und schlechte Gefühle drängten, so sehr drängten, dass auf diesem dunklen Acker fast nichts anderes mehr wachsen konnte. Aber dann hatte sie eines Morgens ein Gefühl des Friedens, das sich noch vom vergangenen Abend gehalten hatte, den sie mit Nähen zugebracht hatte, während er lesend im Zimmer nebenan gesessen war. Und ein oder zwei Tage danach hatte sie ein Gefühl von Zufriedenheit, das sich am Morgen noch vom Abend davor gehalten hatte, als er ihr in der Küche beim Abwaschen des Geschirrs Gesellschaft geleistet hatte. Wenn die Zahl der guten Zeiten zunahm, dachte sie, dann konnte jede gute Zeit ein gutes Gefühl mit sich bringen, das seinerseits mehrere gute Zeiten mit sich bringen würde, und diese würden mehrere gute Gefühle mit sich bringen. Sie meinte damit, dass sich die guten Zeiten vielleicht so rasant multiplizieren würden wie das Quadrat zum Quadrat oder vielleicht noch rasanter, wie Mäuse oder wie Pilze, die über Nacht von den auseinanderstiebenden Sporen eines Mutterpilzes aus dem Boden schossen, der seinerseits zusammen mit einer Gruppe anderer aus den auseinanderstiebenden Sporen eines Mutterpilzes aus dem Boden schoss – bis ihr Leben mit ihm so gedrängt voll von guten Zeiten wäre, dass die vielen guten Zeiten vielleicht die schlechten verdrängen würden, wie die schlechten Zeiten die guten Zeiten bis zur Stunde beinah verdrängt hatten.

      Idee für einen kurzen Dokumentarfilm

      Vertreter verschiedener Nahrungsmittelfirmen versuchen ihre eigenen Verpackungen zu öffnen.

      Tabuthemen

      Bald wird beinahe jedes Thema, über das sie vielleicht reden wollten, mit einer weiteren unerfreulichen Szene in Verbindung gebracht und wird zu einem Thema, über das sie nicht reden können, so dass es im Lauf der Zeit immer weniger gibt, worüber sie gefahrlos reden können, so dass zum Schluss kaum noch etwas übrig ist außer den Nachrichten und dem, was sie gerade lesen, wenn auch nicht alles, was sie gerade lesen. Sie können auch nicht über verschiedene Mitglieder ihrer Familiereden, seine Arbeitszeiten, ihre Arbeitszeiten, Hasen, Mäuse, Hunde, bestimmte Lebensmittel, bestimmte Universitäten, heißes Wetter, heiße und kalte Raumtemperaturen während der Tages- und der Nachtzeit, das Einschalten und das Ausschalten des Lichts an Sommerabenden, das Klavier, Musik im Allgemeinen, wie viel Geld er verdient, wie viel sie verdient, wie viel sie ausgibt etc. Aber eines Tages, als sie über ein Tabuthema geredet hatten, wenn auch nicht über das gefährlichste aller Tabuthemen, begreift sie, dass es, manchmal, möglich sein könnte, ruhig und bedachtsam über ein Tabuthema zu reden, so dass es eines Tages vielleicht wieder ein Thema werden konnte, über das man reden konnte, um dann ruhig und bedachtsam etwas über ein anderes Tabuthema zu sagen, so dass es ein weiteres Thema gibt, über das man wieder wird reden können, und dass es, sobald es mehr themen gibt, über die man wieder reden kann, schrittweise mehr Gespräche zwischen ihnen geben wird und dass das Vertrauen wachsen wird, sobald es mehr Gespräche gibt, und dass sie es, sobald genügend Vertrauen da wäre, wagen könnten, sich selbst die gefährlichsten Tabuthemen vorzunehmen.

      Zwei Typen

      Begeisterungsfähig

      Eine Frau war mehrere Tage lang deprimiert und verzweifelt, nachdem sie ihren Kugelschreiber verloren hatte.

      Dann geriet sie wegen eines Inserats über einen Schuhausverkauf so sehr aus dem Häuschen, dass sie eine dreistündige Fahrt zu einem Schuhgeschäft in Chicago unternahm.

      Phlegmatisch

      Ein Mann entdeckte eines Abends ein Feuer in einem Studentenheim und ging weg, um in einem anderen Gebäude nach einem Feuerlöscher zu suchen. Er fand den Feuerlöscher und ging damit zurück zum Feuer.

      Die Sinne

      Viele Leute behandeln ihre fünf Sinne mit einem gewissen Respekt und mit Bedacht. Sie nehmen ihre Augen in ein Museum mit, ihre Nase zu einer Blumenausstellung, ihre Hände in ein Stoffgeschäft für Samt und Seide; sie überraschen ihre Ohren mit einem Konzert und begeistern ihren Mund mit einem Essen im Restaurant.

      Aber die meisten Leute lassen ihre Sinne Tag für Tag schwer für sich arbeiten: Lies mir diese Zeitung vor! Pass auf, Nase, falls das Essen anbrennt! Ohren, tut euch jetzt zusammen und horcht, ob es an der Türe klopft!

      Ihre Sinne haben Aufgaben zu erledigen, und das tun sie, meistens – die Ohren der Tauben tun’s nicht, die Augen der Blinden auch nicht.

      Die Sinne ermüden. Manchmal – lange vor dem Ende – sagen sie, ich gebe auf – ich mach mich aus dem Staub, jetzt. Und dann ist der Betroffene weniger imstande, sich der Welt zu stellen, und bleibt mehr zuhause und hat so manches nicht, was er braucht, wenn er weitermachen soll.

      Wenn ihn alles im Stich lässt, ist er wirklich einsam: im Dunkel, in der Stille, mit tauben Händen, mit nichts im Mund, nichts in der Nase. Er fragt sich: Hab ich sie falsch behandelt? Haben sie’s nicht gut gehabt bei mir?

      Fragen der Grammatik

      Also: Kann ich, während er gerade stirbt, sagen: »Er lebt hier«?

      Wenn mich jemand fragt: »Wo lebt er?« – soll ich dann antworten: »Nun, im Augenblick lebt er nicht, er ist gerade dabei zu sterben«?

      Wenn mich jemand fragt: »Wo lebt er?« – kann ich dann sagen: »Er lebt im Pflegeheim Vernon Hall«? Oder sollte ich vielmehr sagen: »Er stirbt gerade im Pflegeheim Vernon Hall«?

      Wenn er tot ist, dann werde ich, die Vergangenheitsform verwendend, sagen können: »Er hat im Pflegeheim Vernon Hall gelebt.« Und ich werde auch sagen können: »Er ist im Pflegeheim Vernon Hall gestorben.«

      Wenn er tot ist, wird alles, was ihn betrifft, die Vergangenheitsform haben. Das heißt, der Satz »Er ist tot« wird in der Gegenwart stehen, und auch Fragen wie: »Wohin bringen sie ihn?« oder: »Wo ist er jetzt?«

      Dann aber wüsste ich nicht, ob die Verwendung der Worte er und ihn im Präsens korrekt ist. Ist er, wenn er einmal tot ist, noch immer er, und, wenn ja, wie lange ist er dann noch er?

      Die Leute reden vielleicht von »der Leiche« und sagen dann »sie« zu ihr. Von »der Leiche« werde ich ihn betreffend nicht sprechen können, weil er für mich noch nicht etwas ist, was man als »die Leiche« bezeichnen würde.

      Manche Leute sagen vielleicht »seine Leiche«, aber auch das scheint nicht korrekt. Es ist nicht »seine« Leiche, weil er sie nicht besitzt, wenn er nicht mehr aktiv und damit nicht imstande ist, etwas zu besitzen.

      Ich weiß nicht, ob es einen »er« gibt, auch wenn die Leute sagen: »Er ist tot.« Es scheint aber korrekt zu sagen: »Er ist tot.« Das ist vielleicht das letzte Mal, dass er noch im Präsens »er« ist. Andererseits: Das letzte Mal ist es nicht, denn ich sage auch: »Er liegt im Sarg.« Ich werde ebenso wenig wie sonst jemand sagen: »Sie liegt im Sarg«, oder: »Die Leiche liegt in ihrem Sarg.«

      Ich werde, wenn er gestorben ist, weiterhin von ihm als von »meinem Vater« reden. Aber tu ich das nur, wenn ich in der Vergangenheitsform spreche, oder tu ich das auch im Präsens?

      Er kommt in eine Büchse, nicht in einen Sarg.