Adrienne Fichter

Das Netz ist politisch – Teil I


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Das Netz ist politisch – Teil I

      Das Netz ist politisch – Teil I von Adrienne Fichter wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.

      © 2020 – CC-BY-NC-ND (Werk), CC-BY-SA (Texte)

      Autorin: Adrienne Fichter Verlag & Produktion: buch & netz (buchundnetz.com) Umschlaggestaltung: buch & netz (buchundnetz.com) ISBN: 978-3-03805-302-6 (Print – Hardcover) 978-3-03805-301-9 (Print – Softcover) 978-3-03805-345-3 (PDF) 978-3-03805-346-0 (ePub) 978-3-03805-347-7 (mobi/Kindle) Version: 0.84-20201015

      Die Texte wurden ursprünglich im digitalen Magazin «Republik» publiziert.

      Dieses Werk ist als buch & netz Online-Buch und als eBook in verschiedenen Formaten, sowie als gedrucktes Buch verfügbar. Weitere Informationen finden Sie unter der URL: https://buchundnetz.com/werke/das-netz-ist-politisch-teil-1.

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      Editorial

      Diese Zeilen schreibe ich im Home Office. Als Tech-Journalistin, die sich mit gesellschaftlichen und politischen Implikationen von Technologie auseinandersetzt, fasziniert mich die aktuelle Periode. Denn die derzeitige Pandemie hat uns gezeigt, dass nicht nur das Gesundheitswesen das Prädikat «Systemrelevanz» verdient. Sondern auch eine funktionierende digitale Infrastruktur. Kein Chief Technological Officer, kein Innovationsprojekt, kein Extrabudget konnte die digitale Transformation von Schulen, Verwaltungen und Unternehmen so sehr beschleunigen wie das 2019 entdeckte Coronavirus. Der von Regierungen verhängte Lockdown oder Shutdown wurde zum Katalysator der digitalen Transformationen, die man an einigen Stellen – Schule, Parlament, Unternehmen, Bundesverwaltung – jahrelang aufgeschoben hat.

      Das Coronavirus zwang uns – Eltern, Lehrerinnen, Bundesangestellte und Managerinnen – sich mit Fragen auseinanderzusetzen, die wir jahrelang bis ins Jahr 2020 wegprokrastinieren. Schliesslich reichte ja für den Alltagsbetrieb zu einem grossen Teil die physische Präsenz. Nun zeigt sich, wie sehr die Digitalisierung zu einem grossen Teil Verhandlungsmasse ist. Und Entscheidungsprozesse beinhalten, in denen wir zwischen verschiedenen Werten, Prinzipien, Geschäftsmodellen oder Algorithmen austarieren müssen: Etwa wenn wir uns mit der Wahl des richtigen Videokonferenzwerkzeugs für unsere Home Office-Umgebungen beschäftigen: was ist uns wichtig, pragmatischer Benutzerkomfort, eine funktionsfähige Leitung, die nicht zusammenbricht oder eine Ende-zu-Ende verschlüsselte und datensparsame Videoverbindung? Oder bei Fragen, wie eine nationale Contact Tracing-App ausgestaltet werden soll: maximal privatsphärenfreundlich, aber damit auch epidemiologisch untauglich?

      Viele der obigen Fragen tangieren verschiedene ethische Werte und Designprinzipien, die manchmal synergetisch und harmonisch zu vereinbaren sind. Oder sich manchmal klar widersprechen.

      Privatsphäre, Nutzerkomfort, einfache Bedienbarkeit, hohe IT-Sicherheit, Transparenz durch Open Source, konstruktives oder fehlgeleitetes schädliches Verhalten aufgrund von algorithmischen Anreizen. Genau um diese Werte, ihre Widersprüche und aber auch Kongruenzen dreht sich mein Buch. In verschiedenen Recherchen, Analysen und Hintergrundgeschichten versuche ich das Spannungsverhältnis zwischen maximaler Vernetzung, grosser Reichweite und den potenziellen Einbussen an Selbstbestimmung und Privatsphäre herauszuarbeiten.

      Dieser Diskurs mag vielleicht abstrakt klingen, doch die letzten drei Jahre boten genügend Anschauungsmaterial, wie Sie den ausgewählten Texten für dieses Buch entnehmen können: Angefangen mit eVoting, in der die Frage nach der richtigen Abstimmungssoftware direkt die Säule der Demokratie betrifft. Weiter mit der Frage welche der richtige Herausgeber für ein staatliches digitales Benutzerkonto sein soll: ein Privatunternehmen oder ein staatliches Passbüro? Dann zur brandaktuellen Thematik der Google-Schulen in der Schweiz und inwiefern ein Monopolist die persönlichen Daten von siebenjährigen Primarschülern verarbeiten darf. Bis hin zu ethischen Aspekten rund um die Contact Tracing-App, dem geopolitischen Konfliktpotenzial von globalen Lieferketten rund um die Computerchips der ETHs und inwiefern Brüssel die globale Technologiewelt regulieren kann. Das Weltgeschehen bot soviel Recherche-Stoff, dass ich mich ständig in neue Dossiers einlesen musste.

      Seit sechs Jahren schreibe ich über diese Schnittmenge von Technologie und Demokratie, zuerst gelegentlich als Social Media-Redaktorin bei der NZZ. Nun hauptberuflich bei der Republik und als Herausgeberin des Buchs Smartphone-Demokratie, das im September 2017 erschienen ist. Mein Fokus wurde zu Beginn – also vor circa 8 Jahren – oft noch als Nischenthema bezeichnet. In deutschsprachigen Redaktionen wird Technologie und Software nicht als Politikum per se verstanden. Viele Journalistinnen und Journalisten konnten sich daher wenig unter der Schnittmenge von Digitalisierung und Demokratie vorstellen. Oft wurden die digitalen US-Kampagnen von Barack Obama und später von Donald Trump damit assoziiert, mehr nicht. Dies, obwohl die Snowden-Enthüllungen 2013 eindrücklich gezeigt haben, welche Machtkonstellationen und -bündnisse hinter einem unsicheren und unverschlüsselten Internet stecken können.

      Im angelsächsischen Raum würde man sich über den Begriff Nische wundern. Denn was in Europa noch als Nische definiert wird, wird dort zu eigenen personell gut dotierten Ressorts aufgerüstet. In den USA hatte sich das Verständnis von Technologie-Journalismus nach den Nullerjahren – in denen insbesondere Gadgetbesprechungen und Serviceartikel dominierten – weiterentwickelt. Immer mehr forschten Journalisten zu den Intersektionen von Technologie und Gesellschaft. Akribisch werden Schnittstellen, Voreinstellungen und Sicherheitslücken gesucht. Wer fündig wird und eine Schwachstelle entdeckt mit grosser Tragweite, landet einen «Scoop». Der Vorsprung verwundert nicht, schliesslich gilt Nordamerika als Hauptsitz für viele Datenkonzerne. Doch bereit in gewissen fachjournalistischen Kreisen würde selbst der Nischenbegriff «Tech-Journalismus» als zu überholt, zu allgemein und generisch gelten. Er enthält für viele dieselbe Unschärfe wie das Wort Politikjournalismus, wo längst zwischen einer Inlandreporterin oder Brüssel-Korrespondentin unterschieden wird.

      In amerikanischen Fachmagazinen haben sich deswegen regelrechte Subdisziplinen herausgebildet. Im Technologiemagazin Motherboard von Vice Media haben sich einzelzne Disziplinen herausspezialisiert. Eine Cybersecurity, Privacy, Social Media-Reporterin deckt einen eigenen weiten Fachbereich – einen eigenen Beat – ab. Sie beobachten neue Entwicklungen, unternehmen Recherchen, publizieren Analysen und Kommentare zu ihrem Subfachgebiet. Alleine schon den Themenkomplex IT-Sicherheit journalistisch und fachlich kompetent zu begleiten, erfordert ein grosses Netzwerk von Sicherheitsspezialisten, Behörden, einer Anlaufstelle für Whistleblowers und fachkundige KollegInnen, die eine Journalistin für allerlei fachliche Fragen konsultieren soll.

      Was sich in Europa allmählich langsam herausbildet, ist in den USA bereits etabliert. Vorbilder aus dem angelsächsischen Raum gibt es viele: Motherboard, The Verge, Intercept. Doch wenn ich nur eine Person nennen müsste, dann wäre das die preisgekrönte Investigativjournalistin Julia Angwin und ihr neuestes Projekt The Markup. Angwin, die bereits bei der Non-profit-Plattform ProPublica-Recherchen publizierte, wollte sich mit Markup ganz auf die Technologien-Welt spezialisieren. Ihrer journalistischen Methoden und Ausrichtung verpasste sie eine passende Bezeichnung, auch wenn sich diese schwer auf Deutsch übersetzen lässt: Sie verfolgt einen «evidence-based tech accountability journalism». Relevant sind hier vor allem die Begriffe «Evidenz» und «Accountability» also «Rechenschaftspflichtigkeit».

      Die Redakteurinnen und Redakteure von Markup arbeiten datenbasiert, sie erheben Datenauskünfte bei Technologie-Unternehmen, probieren verschiedene Werbekampagnen aus, sie gehen von sich als Konsumentin oder Nutzer aus und betreiben sogenanntes «reverse engineering». Mit einem Auskunftsbegehren findet man nicht nur das Ausmass von gesammelten Daten durch eine Plattform, sondern erfährt auch mehr über deren Mechanismen