und verwies auf die „individuelle Lebensarbeitsleistung“. Nunmehr verlor die Rente ihren ärmlichen Charakter als bloßes Existenzminimum. Die laufenden Renten wurden gleichzeitig einmalig um durchschnittlich 65 % angehoben! Das seit Bismarck gültige Prinzip der Äquivalenz von Beitrag und Leistung hatte nicht mehr den Ansprüchen einer dynamischen Wirtschaft mit erheblichen Lohn- und Preissteigerungen genügt.
Als neuer Leitbegriff fungierte aufgrund des Umbaus des Finanzierungsverfahrens der sog. Generationenvertrag: Das bis dahin geltende Kapitaldeckungsverfahren wurde aufgegeben und ein Umlageverfahren eingeführt, d.h. die Beitragszahler bauten keinen Kapitalstock mehr auf, sondern sie finanzierten die Renten der aktuellen Rentengeneration. Dabei vertrauen sie darauf, dass die nächste Generation ebenfalls ihre Renten finanziert.
Letztlich setzte sich Adenauer gegen den Willen des Wirtschaftsministers Erhard und den eher fürsorgerechtlich orientierten Vorstellungen des Finanzministers Schäffer sowie den Arbeitgeberverbänden durch, die sich gegen eine automatische Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung wandten. Insbesondere die Spitzenverbände der Wirtschaft befürchteten aufgrund der Dynamisierung eine lohnpolitische Interessengemeinschaft zwischen den Rentnern und den Arbeitnehmern und eine Verschiebung des tarifpolitischen Gleichgewichts. Die Rentenreform 1957 war aber auch durch massiven Druck der SPD zustande gekommen, dennoch errang die CDU/CSU bei den Bundestagswahlen 1957 wohl wegen dieser Reform einen großen Sieg.
Die Rentenreform von 1957 beendete endgültig die sozialdemokratischen Präferenzen für eine am britisch-skandinavischen Vorbild angelehnte einheitliche staatsfinanzierte Grundrente für alle Staatsbürger einschließlich eines staatsfinanzierten Gesundheitssystems. Vor allem aus heutiger Perspektive ist allerdings kritisch anzumerken, dass die Reform von 1957 berufstätige Hausfrauen und Mütter nicht einbezog. Nach Thomas Ebert bildete im Übrigen parteipolitisch die „Reform von 1957 den Anfang einer über Jahrzehnte wirksamen informellen großen Koalition von Union und SPD in der Rentenpolitik“18, ungeachtet von tiefen Meinungsverschiedenheiten in anderen Politikfeldern.
Der weitere Ausbau des westdeutschen Sozialstaats betraf die bisherige Fürsorge, denn das 1961 beschlossene Bundessozialhilfegesetz beinhaltete einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Unterstützung zu einem „menschenwürdigen Dasein“. 1961/64 folgten Verbesserungen beim 1954 wieder eingeführten Kindergeld und 1963 wurde das Wohngeld installiert.
Die Jahre von 1966 bis 1974 werden gemeinhin als große Reformära eingestuft.19 Bereits die Große Koalition von 1966 bis 1969 hatte sozialpolitisch aktiver agiert: Die Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung wurde finanzpolitisch verschmolzen, 1969 regelte das Berufsbildungsgesetz die Bundeszuständigkeit in diesem Feld und das im gleichen Jahr verabschiedete Arbeitsförderungsgesetz (AfG) strebte u.a. eine aktive Arbeitsmarktpolitik an.
Die Kanzlerschaft Willy Brandts (1969-1974) brachte die „Phase der größten Beschleunigung der Sozialstaatsexpansion in der Geschichte der Bonner Republik“20 und die Sozialleistungsquote stieg um rund sechs Prozent an. Parteipolitisch gilt im Übrigen der Befund, dass vielfach die großen Parteien gemeinsam die Vorhaben verabschiedeten, so dass die „Sozialstaatsgeschichte der Jahre 1966 bis 1974 daher als Konsensgeschichte“21 darstellbar ist. Im Hinblick auf den ausgebauten deutschen Sozialstaat ist die deutsche Besonderheit zu bedenken, dass es im Unterschied zu den USA und Großbritannien mit der CDU/CSU und der SPD zwei große „Sozialstaatsparteien“22 gibt.
Ein markantes Beispiel für die problematische Parteienkonkurrenz in der Sozialpolitik war die Rentenreform von 1972. Diese Rentenreform kam innerhalb einer besonderen politischen und ökonomischen Konstellation zustande: Zum einen bestand infolge der Ostpolitik der neuen sozialliberalen Koalition ein politisches Patt im Bundestag und der Wahlkampf für die vorgezogenen Bundestagswahlen hatte bereits eingesetzt. Zum anderen herrschte eine wirtschaftliche Boomphase vor, so dass man von einer anhaltenden Vollbeschäftigung und Überschüssen in der Rentenkasse ausging.23 Letztlich beschloss der Bundestag in einem von allen politischen Kräften – einschließlich der FDP, die die Rentenversicherung für freie Berufe und Fabrikanten öffnen wollte – betriebenen Überbietungswettbewerb eine große, kostenträchtige Rentenreform. Das allgemeine Leistungsniveau wurde vor allem auf Betreiben der Opposition erhöht, die die SPD „auf der sozialpolitischen Bahn links überholen“ wollte. Die SPD insistierte auf einer flexiblen Altersgrenze ab dem 63. Lebensjahr ohne Abschläge. Von der Erhöhung des Rentenniveaus profitierten rund 12 Mio. Rentner. Darüber hinaus wurde die gesetzliche Rentenversicherung auf Selbstständige, Hausfrauen, Landwirte und Studenten ausgeweitet.
Zusammenfassend bestanden als die wichtigsten Pfeiler des deutschen Sozialmodells in den beiden Jahrzehnten nach Kriegsende das Tarifvertragsgesetz von 1949 mit der Tarifautonomie, das Kündigungsschutzgesetz von 1951, das Lohnfortzahlungsgesetz von 1969, die Montanmitbestimmung von 1951, das Betriebsverfassungsgesetz von 1952, das Mitbestimmungsgesetz von 1976, die dynamische Rente 1957, das Kindergeldgesetz 1954, das Ehegattensplitting 1958, das Bundessozialhilfegesetz von 1961 mit Betonung von „Hilfe“ anstatt von „Fürsorge“, das Arbeitsförderungsgesetz 1969 und generell das Verfassungsziel gleicher Lebensbedingungen.24
Die expansive Entwicklung des bundesdeutschen Sozialstaats von den 1950er Jahren bis Mitte der 1970er Jahre muss grundsätzlich vor dem Hintergrund einer außerordentlich dynamischen Wirtschaft gesehen werden, dem sog. Wirtschaftswunder, das die sozialpolitischen Fortschritte ermöglichte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs expandierte von 1950 bis 1975 der deutsche Sozialstaat enorm, so stieg der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt in dieser Zeit von 19,2 % auf 33,9 %. Allein in der Phase von 1966 bis 1974 wuchs dieser Wert von 24,1 % auf 30,3 %, drei Viertel des Zuwachses fielen dabei in die Regierungszeit Brandt/Scheel! Die Epoche von 1966 bis 1974 wird auch als die „hohe Zeit der arbeitnehmerorientierten Sozialpolitik“25 charakterisiert, denn die realisierten Reformen betrafen vielfach gewerkschaftliche Forderungen wie die Lohnfortzahlung, die flexible Altersgrenze, das Betriebsverfassungsgesetz oder den verbesserten Arbeitsschutz. Ein weniger positives Bild gab demgegenüber die Ausländerpolitik ab, denn die Integration der „Gastarbeiter“ verlief nur zaghaft.
Lutz Leisering26 unterscheidet beim Ausbau des (west)deutschen Sozialstaates fünf Phasen, nämlich die Restauration (1949-1953), den Ausbau (1953-1975), die Konsolidierung (1975-1990), eine späte Expansion (1990-1995) und die Krise (ab 1995). Mitte der 1970er Jahre endete die Epoche der Expansion des Sozialstaates nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland. Die erste Ölkrise 1973 und eine anschließende Rezession 1974/75 bildeten eine „Wendemarke“27 und den Beginn einer Politik der Konsolidierung und Kostendämpfung der Aufwendungen für Sozialpolitik. Als Fazit am Ende der Boomphase kann man in Bezug auf den deutschen Sozialstaat festhalten: Es blieb bei der „Vorherrschaft des Sozialversicherungsprinzips“, dessen Kern ein „System der Versicherung abhängiger Arbeit [bildete], das sich überwiegend durch bruttolohnbezogene Beiträge finanzierte und eine Familienkomponente aufwies, die vom Modell der Hausfrauenehe geprägt war“28.
Die beiden Ölkrisen 1973 und 1979 konnte Westdeutschland ungeachtet negativer Jahreswachstumsraten zwischen 1975 und 1982, einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und einer Verdoppelung der Schuldenquote noch relativ glimpflich verkraften. Sozialpolitische Einschnitte fokussierten sich unter der seit 1974 amtierenden neuen Bundesregierung mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt auf Ausgabenkürzungen in der Arbeitsmarktpolitik und in der Arbeitslosenversicherung sowie später in der Rentenversicherung. Der Begriff